Von Christina Dreisewerd

„Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzem Land?“, fragte die Königin in einem verschwörerischen Ton, als sie vor dem Spiegel trat.  
  „Ihr meine Königin, Ihr seid die Schönste im ganzen Land!“, antwortete dieser monoton.
Ein diabolisches Grinsen legte sich auf die schmalen, dunkelroten Lippen der Königin. Ihre blauen Augen funkelten eiskalt und ihre Haut wirkte kühl und  zugleich zart wie Porzellan.
  „Endlich! Ich habe es geschafft!“, jubelte sie und tanzte freudig durch das abgedunkelte Gemach, bis sie erneut vor dem Spiegel stehen blieb und sich selbstverliebt einen Luftkuss zuwarf. Sie war die Schönste und würde dieses für immer so bleiben!

  Ihr Körper fühlte sich schwer an. So schwer, dass sie sich nicht regen konnte. Sie versuchte ihre Finger zu bewegen. Sie wollte diese leicht anheben, ganz kurz nur, um sie dann wieder fallen zu lassen. Doch ihre Kraft reichte nicht aus. Ihre Gliedmaßen waren taub und ihre Augen weit geöffnet. Sie starrte hinauf zum lichtdurchfluteten Blätterdach des Waldes. Das Geäst der Bäume wiegte sich seicht im Frühlingswind und ließ die Sonnenstrahlen tanzen. Gedämpft, wie hinter dicken Wattewolken verborgen, nahm sie das Gezwitscher der Vögel wahr. Sie lag im weichen Gras, mittig einer Lichtung.

  „Da ist sie, kommt schnell!“, rief eine ihr bekannte Stimme. Ein pausbackiges Gesicht mit einer dicken Knollennase tauchte über ihren Kopf auf und starrte sie entsetzt an, „Warum bewegt sie sich denn nicht?“

  Ein zweites Gesicht, schmal mit langer, krummer Nase beugte sich über ihren Körper, „Sie atmet nicht mehr…“ Er senkte den Blick und wandte sich seinen sechs Weggefährten zu, „Schneewittchen, sie ist tot …“ Dicke Tränen kullerten über sein Gesicht.

 „Ich bin nicht tot! Ich atme! Ich lebe!“, versuchte Schneewittchen zu rufen, doch ihre roten Lippen blieben stumm, „Meine lieben Zwerge, so hört mich doch!“

  Die sieben Zwerge versammelten sich um den, in ihren Augen, leblosen Körper und weinten bitterlich. Wie konnte es die böse Königin nur geschafft haben, ihnen ihr Schneewittchen zu nehmen? Sie suchten verzweifelt nach einer Ursache, fanden diese jedoch nicht. Ein Zwerg kämmte ihr schwarzes Haar, ein anderer zog ihr die Schuhe aus und löste das Hüftband, welches sie umgebunden hatte. Doch Schneewittchen wachte nicht auf.

  Drei Tage und drei Nächte vergingen. Die Zwerge wichen nicht von ihrer Seite, bis der Älteste das Wort ergriff, „Ich kann es nicht mehr ertragen, wie sie uns mit ihren großen blauen Augen anblickt, so als ob sie uns um Hilfe bitten würde!“, rief er verbittert und trat auf Schneewittchen zu.

  „Du hast recht! Bitte, hilf mir!“, flehte sie, als sie seine Hand auf ihre Augen zu kommen sah. Dann wurde es dunkel.

  „Neeeiiiin!

  „Es ist Zeit Abschied zu nehmen“, hörte sie den Ältesten weiter sagen, „Kommt meine lieben Freunde…“ Bald schon war Schneewittchen alleine. Gefangen in einer undurchdringbaren Dunkelheit, die alles umgab. Alles war so schwarz, dass selbst das Dunkel der Nacht einem hell erschien.

  „Sie sieht aus, als ob sie schlafen würde. Sie ist genauso schön wie eh und je“, hörte sie irgendwann einen der Zwerge sagen.

  Sie waren zurückgekehrt! Schneewittchen freute sich. Endlich waren ihre Freunde wieder an ihrer Seite. Doch da spürte sie plötzlich einen kräftigen Ruck. Etwas zog an ihren Beinen und ihr Oberkörper wurde angehoben.
  „Lasst sie uns dort oben auf dem Hügel, da wo die ersten Sonnenstrahlen den neuen Tag begrüßen, bestatten.

  „HILFE, ich will nicht!“ Schneewittchen kämpfte, doch niemand bekam ihre Angst mit. Niemand erkannte ihre Panik und niemand sah ihre Tränen, die sie innerlich verfloss. Für die Zwerge war sie tot. Ein lebloser Körper, der nun zur letzten Ruhestätte getragen wurde. Mit traurigem Gesang, der viele Stunden anhielt, verabschiedeten sie sich von ihr.

  „In diesem gläsernen Sarg wird sie für immer und ewig in ihrer Schönheit ruhen können“, flüsterte der Älteste und dann verließen die Zwerge sie.

 Sie blieb zurück. Alleine.

  Die Zeit verging. Stunden wurden zu Tagen und Tage zu Wochen. Schneewittchen lag dort oben auf dem Hügel und war verloren im schwarzen Nichts. Ihre Tränen waren versiegt und ihre Stimme verstummt. Sie hatte keine Kraft mehr. Sie wollte nicht mehr leben. Sie wollte nur noch eins, sterben. Doch da vernahm sie Stimmen, die rasch näher kamen.

  „Sagt mir, wer ist sie? Ihre Haut ist so weiß wie Schnee und ihre Lippen so rot wie Blut. Das Haar schwarz wie das Ebenholz!“

  „Mein edler Prinz, das ist Schneewittchen. Getötet von der bösen Königin!“, hörte sie den ältesten der Zwerge sprechen.

  „Getötet?“

  „Ja, von ihr. Sie konnte nicht ertragen, dass unser Schneewittchen schöner und reiner war, als sie selbst!“

  „Sie sieht aber aus, als ob sie schlafen würde. Lasst sie mich mit in mein Königreich nehmen. Ich werde auf sie achten und sie ehren. So ein hübsches Wesen darf hier nicht im Wald bleiben. Sie soll es anmutig und schön haben. “

  Schneewittchen lauschte der sanften, wohligen Stimme, die ihr Herz berührte und erwärmte. Er wollte sie mitnehmen! Stimmengewirr kam auf, bis der älteste der Zwerge sagte: „So nehmt sie, mein Prinz. Gibt ihr den Frieden, den sie verdient!“

  Plötzlich rumpelte es.

  „Was passiert hier?“

  Sie spürte einen kräftigen Ruck, der durch ihren Körper jagte. Ein Hustenreiz kam auf. Angsterfüllt versuchte Schneewittchen sich vergeblich zu bewegen. Sie wollte Husten, aber konnte es nicht. Der Reiz in ihrem Hals wurde stetig quälender, dass Sie das Gefühl hatte zu ersticken. Irgendetwas saß in ihrer Kehle fest.

  „So passt doch auf!“, hörte sie den Prinzen rufen.

  „HILFE!“

  „Legt den Sarg nieder, meine lieben Zwerge. Ich möchte sie in meinen Armen tragen. Ich bin stärker als ihr sieben zusammen.“

  Schneewittchen spürte, wie starke Hände ihren Körper packten. Sie wurde nach oben gehoben und der Druck in ihrer Kehle nahm zu.

  „Ich werde dich sicher in mein Schloss bringen“, flüsterte der Prinz ganz dicht an ihrem Ohr. Sie fühlte seinen seichten Atem und die wohlige Wärme, die von seinem Körper ausging. Dann spürte sie plötzlich etwas auf ihren Lippen. Zart, weich und sanft.

  „Ich werde geküsst!“

  Der Hustendrang wurde so stark, dass sie ihn nicht mehr länger unterdrücken konnte. Sie bäumte sich auf, warf den Kopf zur Seite und spuckte ein Stückchen Apfel aus, das fest in ihrem Rachen stecken geblieben war. Sie rang tief nach Luft und hustete, dann öffnete sie die Augen. Das helle Tageslicht blendete sie so sehr, sodass ihre Augen zu tränen begannen. Eine Hand strich ihr diese aus dem Gesicht und da blickte sie das erste Mal bewusst in die dunkelbraunen Augen, die ihr das Leben gerettet hatten. Der Prinz lächelte.

  „Unser Schneewittchen! Sie lebt!“, riefen die Zwerge jubelnd aus und tanzten vor Freude im Kreis umher.

  Schneewittchen lachte und wandte sich ihrem Erlöser zu, „Du hast mich gerettet! Du hast den Fluch der bösen Königin gebrochen!“ Sie schauten sich tief in die Augen und ihre Lippen nährten sich. Dann küsste der Prinz das Schneewittchen innig und wenige Wochen später wurde groß Hochzeit gefeiert.

  An diesem Tage stand die böse Königin vor ihrem Spiegel und fragte, wer denn die Schönste im ganzen Land sei. Sie wusste zwar die Antwort, aber sie wollte diese immer und immer wieder hören. Sie brauchte die wohltuenden Worte und die Bestätigung, dass ihre Schönheit weiterhin unerreichbar sei. Gedanklich sprach sie die Worte des Spiegels stets mit, doch dieses Mal antwortete er anders, als erwartet.
  „Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier. Aber Schneewittchen, die Braut des Prinzen, ist noch tausendmal schöner als Ihr!“
  Das war zu viel. Entsetzt starrte sie auf ihr Gegenüber und konnte es nicht fassen. Schneewittchen war am Leben! Wie konnte das aber nur sein? Erzürnt tobte die böse Königin durch ihr dunkles Gemach, riss wutendbrand den Spiegel von der Wand und ließ diesen laut scheppernd zu Boden fallen. Das Glas zersprang und die Splitter schossen wie Pfeile wild umher. Einer bohrte sich in die Brust der Hexe, tief bis ins Herz hinein.

(Version II)