Von Gerd Henze

„Die Waldluft bekommt dir gut. Du siehst klasse aus, Yuki.“
„Ein bisschen blass, findest du nicht?“
„Das macht dich ja gerade so schön. Deine Haut strahlt so weiß wie feinster Marmor unter den glänzenden schwarzen Haaren.“
„Was hältst du von meinem Tattoo?“
„Einfach genial. Auf die Idee muss man erst mal kommen: Adlerschwingen auf den Innenseiten der Oberarme. Wenn du sie ausbreitest, meint man glatt, du fliegst wie ein Engel in den Himmel. Kein Wunder, dass die Alte neidisch auf dich ist.“
„Hast du gesehen? Sie hat jetzt auch einen Account.“
„Na und? So viele Likes und Follower wie du bekommt sie nie. Da kann sie posten, was sie will.“

„Mag sein, aber mein Vater ist verrückt nach ihr.“
„Wenn schon. Du bist seine Tochter. Dich liebt er mehr.“
„Ich weiß nicht. Nachdem meine Mutter gestorben war, hat er viel öfter mit mir geredet. Er hat mir von seinen Problemen erzählt und mich um Rat gefragt, ganz gleich, ob es um seinen Job oder sonst was ging. War er traurig, hat er bei mir geweint. War er fröhlich, hat er mit mir gelacht.“
„Das renkt sich wieder ein. Du wirst schon sehen. Wenn sich die Leidenschaft erst mal abgenutzt hat, kommt er wieder zu dir zurück.“
„Schön wäre es. Aber sie ist ja so raffiniert. Ständig gluckt sie um ihn herum. Betüdelt ihn von morgens bis abends. ‚Hast du einen schweren Tag gehabt? Du bist ja ganz verspannt. Setz dich, ich massiere dich erst mal!‘ So was von billig, sag ich dir.“

„Sie will ihm gefallen. Das ist doch normal.“
„Und vögeln solltest du sie erst mal hören. Sie schreit und stöhnt und keucht und japst, als wollte sie den Porno-Oscar gewinnen. Und er röhrt wie ein brunftiger Hirsch dazu. Die spielt ihm doch nur was vor. Mit Mama war es nie so.“
„Gönn ihm doch das bisschen Spaß. Vögeln ist offensichtlich das einzige, was sie gut kann.“
„Ich würd mich nicht wundern, wenn es die notgeile Schlampe auch noch mit anderen treibt.“
„Nun mach aber mal halblang! Das geht jetzt wirklich zu weit.“
„So? Und was war, als mich Alex zum Schwimmen abgeholt hat? Die Titten sind ihr fast aus dem Dekolletee geplumpst, als sie ihm die Tür geöffnet hat. Der Idiot war den ganzen Nachmittag voll von der Rolle.“
„Es war heiß. Hätte sie sich einen Pulli überziehen sollen?“
„Der Bitch ist immer heiß. Kaum kommt die Sonne raus, räkelt sie sich im Bikini auf dem Liegestuhl, wenn man den Arschbacken-Tuner überhaupt so nennen kann. Der Lindemann von nebenan legt seine Heckenschere gar nicht mehr aus der Hand, wenn die ihre Show auf dem Rasen abzieht.“

„Sie zeigt halt gern, was sie hat. Du doch auch.“
„Ja, aber nicht so. Außerdem traue ich ihr nicht über den Weg. Erinnerst du dich noch an die coole Platinkette, die ich mir von ihr geborgt habe?“
„Klar, die mit den abgefahrenen Plättchen-Anhängern.“
„Da war Nickel drin. Es hätte mir bald den Hals zugeschnürt an dem Abend. Sie sollte doch eigentlich wissen, dass ich allergisch bin.“
„Vielleicht wusste sie ja selbst nicht, dass Nickel drin ist.“
„Und was war mit den japanischen Haarnadeln aus Wurzelholz?“
„Ja was war damit?“
„Meine Kopfhaut hat gejuckt und genässt. Ich hatte Angst, mir fallen die Haare aus. Wer weiß, mit was die lackiert waren.“
„Du hast sie aus ihrer Kommode geklaut.“
„Und wenn schon. So etwas kauft man erst gar nicht.“

„Ihre Klamotten ziehst du auch an, wenn sie nicht da ist – und schneidest mit der Nagelschere kleine Löcher rein, als ob Motten dran rumgefressen hätten.“
„Immer hält er nur zu ihr.“
„Was sollte er auch machen? Du hast schließlich ihre Katze vor den Bus gejagt.“
„Ich hab sie bloß verscheucht, als sie uns eine tote Maus auf die Fußmatte gelegt hat. Ist doch nicht meine Schuld, dass das blöde Viech auf die Straße rennt, statt auf einen Baum zu klettern, wie jede andere Katze auch.“
„In eurem Garten steht kein Baum.“
„Soll er doch glücklich werden mit der Schlampe. Mich sieht er nicht wieder.“

„Glaubst du, bei Nico und seinen Kumpels bist du besser aufgehoben?“
„Mit denen kann ich wenigstens cool abhängen. Einer von denen hat immer was dabei.“
„Ich fürchte, diesmal hast du es übertrieben?“
„Quatsch! Ich kenn mich aus mit dem Zeug.“
„Hörst du das?“
„Was?“
„Sie kommen. Ich verschwinde jetzt. Wir sehen uns später.“
„Dreihundertsechzig Joule! Und los!“
„Wir verlieren sie.“
„Nochmal. Dreihundertsechzig – und los!“
„Ich warte auf dich, mein Prinz.“
„Und noch einmal!“
„Lass sie gehen! Sie kommt nicht wieder. Das war zu viel Schnee für Schneewittchen.“