Von Eva Fischer

Es war einmal. So fangen bekanntlich Märchen an.

Diese Geschichte spielt vor 56 Jahren, als es noch keine Bedenken gab, Kohle zu fördern. Die Klimakatastrophe durch zu viel CO 2 Ausstoß war noch kein Thema. Die Förderbänder standen nicht still, um das schwarze Gold ans Tageslicht zu bringen und somit für Wärme und Energie zu sorgen.. Zwar waren die Häuser mit Ruß bedeckt, doch das störte niemanden. Auch die Hausfrauen waren es gewohnt, einmal die Woche die Fenster zu putzen und weiße Wäsche besser nicht im Garten trocknen zu lassen.

 

In dieser längst vergangenen Zeit hatten sich sieben Kumpel zu einer Männer WG zusammengefunden.

Der Anführer hieß Manni, verfügte über chronisch gute Laune und chronisch viel Durst, natürlich erst nach Feierabend, wenn die Schicht vorbei war.

Paul war weniger optimistisch und nörgelte schon mal gerne herum, vor allem wenn er morgens über die Unterhosen seiner Kumpels stolperte. Er drang auf Ordung und Sauberkeit, konnte sich aber nicht so recht durchsetzen.

Hermann war der Größte und Stärkste unter ihnen. Er hatte als einziger das Privileg, in einem Bett von 1m 70 zu schlafen. Die anderen kamen mit 1m 50 zurecht. Wenn man sich Tag für Tag durch enge Stollen quetschen muss, ist Körpergröße eher hinderlich, also umgekehrt wie bei Basketballspielern.

Bodo war der Kleinste von allen, allerdings mit dem größten Appetit. Er fütterte seinen kugelrunden Bauch vorzugsweise mit Currywurst, Pommes, Ketchup und Mayonnaise. Erstaunlicherweise kam ihm sein Bäuchlein nie bei seiner Arbeit in die Quere.

Rudolf war der Romantiker. Unter Tage träumte er von der Sonne Venedigs. Er hoffte, dass er eines Tages eine vollbusige, rassige Brünette, einen Claudia-Cardinale-Typ, in einer Gondel vernaschen konnte. Tagträume machen bekanntlich nicht satt. Er war also der Dünnste der Sieben.

Bleiben noch Hans und Peter zu erwähnen. Beide waren große Fans von Manni. Wenn er lachte, lachten sie auch. Wenn er trank, tranken sie auch. Und natürlich beanspruchten sie stets einen Platz an seiner Seite.

 

Das Untertagewerk war getan. Die sieben Kumpels standen unter der Dusche und Manni trillerte fröhlich ein Lied. Alle freuten sich schon auf den wohlverdienten Feierabend und ein paar kühle Bierchen im trauten Heim.

„Sollen wir vorher nicht noch mal beim Jupp vorbei und ne Currywurst tanken?“, schlug Bodo vor.

Rudolf verdrehte die Augen. „Du mit deiner Currywurst! Wie wär’s mal mit Spaghetti zur Abwechslung?“

„Nix da! Heute Abend gibt’s Schnittchen“, beendete Manni die Diskussion.

„Lecker Schnittchen mit Cervelatwurst und Holländer“, stimmte Hans zu.

„Und mit lecker Gürkchen“, schwärmte Peter.

„Also, Kumpels! Auf geht’s!“, erklang die Stimme des Chefs.

„Hohe Tannen weisen die Sterne“, sang er mit seiner kräftigen Bassstimme und die sieben Kumpels marschierten im Gleichschritt los. Auf die hohen Tannen mussten sie noch etwas warten, erst die hohen Fördertürme hinter sich lassen, aber hinter den sieben Kohlehalden stand ihre freistehende, selbstgezimmerte Hütte mitten in einem schönen Schrebergarten, wo Kartoffeln und Möhren noch im Winterschlaf verharrten.

„Oh Mann, da hat ja schon jemand den Ofen angeschmissen“, freute sich der dünne Rudolf, rieb sich die Hände, und betrachtete wohlwollend den Rauch aus dem Schornstein steigen.

„Das sind Einbrecher, du Depp!“, schimpfte Hermann und ging auf den Schuppen zu, um sich bei den Gartengeräten nach einer geeigneten Waffe umzusehen.

„Nu, macht mal halblang!“, befand Manni.

„ Hans! Peter! Ihr geht mal gucken, wer sich in unserem Heim eingenistet hat.”

Die beiden schlichen sich an die Fenster. Was sie da sahen, schien ihnen zu gefallen, denn Manni musste sie mit einem Pfiff zurückholen, sonst stünden sie noch heute davor.

„Hermann, da liegt ne tolle Braut in deinem Bett“, begeisterte sich Hans.

„Zwar ein bisschen zu groß für meinen Geschmack“, dämpfte Peter.

„Ne irre Figur hat die, auch wennse ein langes Glitzerkleid als Nachthemd trägt. Und blutjung, ich sach et euch“, ereiferte sich Hans weiter.

Die Neugier war geweckt und auf einmal hatten es alle sehr eilig, den Neuankömmling mit eigenen Augen zu betrachten.

 

Wer kann schon in Ruhe schlafen, wenn er von sieben Augenpaaren angestarrt wird, wenn auch wohlwollend. So schlug auch die holde Schöne ihre Augen auf. Manni erkannte sofort das Misstrauen gepaart mit Angst in ihrem Blick.

„Wir tun dir nichts, schönes Kind. Wir sind nur die Hausbesitzer hier.“ Manni räusperte sich verlegen. „Tja, und wir wollten nur wissen, was dich des Weges vorbeigeführt hat.“

„Du kannst ruhig bleiben, wenn du magst“, flötete Rudolf. Selbst in seinen Untertagträumen hatte er noch nie so ein schönes Mädchen gesehen.

Die Angeschmachtete schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln, bevor sich ihre Stirn sorgenvoll kräuselte.

„Ich werde verfolgt“, seufzte sie.

„Ach was!“ „Von wem?“ „Ist ja schrecklich!“ „Wenn ich den erwische, der kriegt eins aufs Maul!,“ redeten die 7 Kumpels durcheinander.

„Meine Stiefmutter will mich vergiften, nur weil man mich zur Venetia gekürt hat. Die alte fette Kuh ist neidisch und gönnt mir mein Glück nicht.“ Nun kullerten doch tatsächlich Tränen über die Wangen der Schönen.

„Dein Kostüm sah mir doch gleich nach Karneval aus“, murmelte Paul.

„Venetia! Was für ein schöner Name! Ich bin übrigens der Rudolpho.“ Der so Genannte reichte ihr galant die Hand.

„ Erfreut. Ich bin das Schlafittchen. So nennt mich zumindest meine böse Stiefmutter.“

„Schlafittchen? Ich kenn nur ein Schneewittchen“, nuschelte Paul.

„Beinahe wäre ich erstickt“, fuhr Schlafittchen dramatisch fort. „Die doofe Kuh weiß doch genau, dass ich allergisch auf Äpfel reagiere.“

„Du kannst erst mal hier bleiben und dich ausruhen“, beschloss Manni großzügig.

„Und wo soll sie schlafen?“ Hermann war weniger begeistert.

„Du kannst mein Bett haben und ich werde auf dem Boden zu deinen Füßen nächtigen“, schlug Rudolf vor.

„Rudolpho, du bist der Prinz meiner Träume! Du darfst das Bett mit mir teilen.“

Der so Genannte errötete ob seines unverhofften Glücks.

„Sach mal, Schlafittchen. Wo du nun schon mal da bist. Kannste uns nicht wat Leckeres kochen, wenn wir abends von der Schicht kommen?“, wollte Bodo wissen.

„Ja und die Bude etwas aufräumen, wäre auch keine schlechte Idee“, stimmte Paul zu.

„Ihr seid mir ja Kavaliere“, schimpfte Rudolf. „Ihr könnt doch die schöne Prinzessin nicht zur Dienstmagd degradieren.“

Schlafittchen schenkte ihm einen dankbaren Augenaufschlag.

„Setzt euch schon mal zu Tisch!“, schlug sie vor.

„Ich mach euch ein paar Schnittchen und Rudolpho darf mir dabei helfen“ , zwinkerte sie ihrem Prinzen zu.

Während die beiden in der Küche verschwanden, holte Hermann Bierflaschen aus dem Kühlschrank. Nach diesem Zwischenfall hatten die Kumpels wirklich großen Durst.

Nach einer Weile räusperte sich Paul. „Ich sach euch, eine Frau im Haus, dat bringt nur Ärger. Wir müssen sehen, wie wir dat Schlafittchen schnell wieder loswerden. Den Rudi hat sie schon verhext.“

„Lasst uns erst mal drüber schlafen“, ordnete Manni an. „So lange kriegt sie Asyl bei uns. Und jetzt kein Wort mehr!“

 

Es wurde dann doch noch ein gemütlicher Abend. Die Schnittchen sahen zauberhaft aus. Fast zu schade zum Essen, fand Rudolf. Leider zu wenig, fand Bodo, denn Schlafittchen war wohl auch hungrig. Das kühle Bier ließ ihre Wangen glühen. Sie fühlte sich offensichtlich sehr wohl im Kreis der Männer und lachte kräftig über ihre Witze.

Es war schon spät und die Kumpels wollten gerade ins Bett gehen, als es an der Tür klopfte.

„Guck mal nach, wer dat is, Peter!“, sagte Manni.

„Is dat Blag bei euch?“ Vor der Tür stand eine korpulente Frau mit Lockenwicklern in den Haaren.

„Und wer will dat wissen?“ Peter war nicht bereit, noch eine Frau in ihr Heim zu lassen schon wegen der angespannten Bettenlage.

„Dat Schlafittchen is minderjährig. Wenn ihr die nicht sofort rausrückt, dann hole ich die Polizei.“ Sie reckte ihren Hals und hatte natürlich bereits das Mädchen erspäht.

„Rettet mich vor meiner bösen Stiefmutter!“, fing die schöne Holde an zu kreischen.

„Wat redeste da für ein Blech. Ich bin deine Mutter und jetzt kommste gefälligst nach Hus!“

Sie wollte ihre Tochter am Schlafittchen packen, aber Rudolf war aufgesprungen und stellte sich ihr in den Weg.

„Wat willste, du Zwerg?“

Das hätte sie besser nicht sagen sollen, denn sogleich kamen die anderen ihrem Kumpel zu Hilfe.

„Dat glaub ich jetzt nicht. Ihr seht aus wie die sieben Zwerge. Seid ihr auch so retro wie meine Tochter, die mit 15 immer noch dat Prinzesschen spielt?“

„Mutter, darf ich nun am Rosenmontag zum Zug als Venetia oder nicht?“ Die Prinzessin stapfte wütend auf den Boden und funkelte ihre Erziehungsberechtiget herausfordernd an.

„Wat willste bei die feinen Pinkels in Düsseldorf. Is auch viel zu weit wech.“

„Ich könnte Ihre Tochter begleiten und beschützen“, schlug Rudolf vor.

„ En Zwerg.“  Die Mutter schaute skeptisch.

„Wir kommen mit!“, riefen die Kumpels im Chor und klatschten sich im gegenseitigen Einverständnis ab.

 

Und so kam es, dass anno domini 1963 eine wie Schneewittchen aussehende Venetia mit ihren sieben Zwergen am Düsseldorfer Rosenmontagszug  mitmarschierte. Die Kumpels hatten jede Menge Kohle mitgebracht, so dass einer feucht-fröhlichen Feier nichts im Wege stand.