Von Ulli Lenz

Dieser Cappuccino hier ist heute mein Trostpreis – ein Luxus, den ich mir eigentlich verkneifen sollte. Und mit großer Wahrscheinlichkeit wird sich meine finanzielle Lage auch nicht so schnell ändern. Allein an den Blicken, die der Personalchef und der Abteilungsleiter beim Vorstellungsgespräch ausgetauscht haben, konnte ich erkennen, dass ich den Job nicht bekommen werde. Vermutlich trauen sie ihn mir nicht zu.
Egal.

Manche Tage starten schon mies. So wie heute. Die Gruppe Jugendlicher im Bus hat anscheinend noch nie „jemanden wie mich“ mit Anzug gesehen, und sich köstlich darüber amüsiert, von wegen ob Zwergengröße dasselbe wie Kindergröße sei. Nicht, dass mich so etwas noch wirklich trifft. Könnte sein, dass mir die mitleidigen Blicke der anderen Fahrgäste, die angestrengt versucht haben, das Spektakel zu „übersehen“, sogar lästiger waren.
Egal.

Auf dem Weg zum Vorstellungsgespräch dann dieser kleine Junge, der mich an der Ampel interessiert von oben bis unten musterte, und mich dann fragte, ob ich ein echter Lilliputaner sei. Kinder sind wenigstens ehrlich und direkt. Ich hätte ja gerne eine ernsthafte Antwort gegeben. Aber der Mutter war die Offenheit ihres Sohnes so peinlich, dass sie ihn quasi von mir weggebeamt hat. Dabei hat sie ihm zugezischt, dass man sowas nicht fragt, und dass ich ein armer Mann sei. Fast schon wieder komisch.
Egal.

Und danach kam noch der Fahrstuhl mit der senkrechten Knopfleiste. Wieder mal die Entscheidung, entweder um Hilfe zu bitten, oder aber die letzten beiden Stockwerke zu laufen, um ans Ziel zu gelangen. Dann lieber zu Fuß.
Egal.

Zwei Tische weiter sitzen drei junge Männer in legeren Hemden und witzeln nicht gerade leise über mich. Heute habe ich aber auch einen Lauf!
Sie machen sich darüber Gedanken, ob alle meine Glieder zu kurz geraten sind.
Echt jetzt? Wie alt sind die, zwölf? Nicht zu fassen. Nicht mal den Kaffee kann ich in Ruhe genießen.
Egal.

Es gibt Schlimmeres. Echte Probleme. Zum Beispiel brauche ich schleunigst wieder einen Job, damit ich mir meine Wohnung weiterhin leisten kann. Auf die habe ich schließlich jahrelang hingearbeitet. Und dann das Wahnsinnsgefühl, als ich meine Küche bekommen habe. Kochen ganz ohne Schemel, einfach unglaublich!
Aber Ersatz für meinen alten Job zu finden wird schwer werden. Schon merkwürdig, dass man uns Kleinwüchsige nicht für kompetent hält.
Egal.

Seufzend gebe ich dem Kellner ein Zeichen, und beginne in meiner Geldtasche zu kramen.  Als das Herrentrio plötzlich verstummt, hebe ich automatisch den Kopf. Die Tür des Cafés fällt ins Schloss, und ein schlankes Mädchen mit fast schwarzem, langem Haar steuert auf den Tisch zwischen uns zu. Sie ist selbst für normale Maßstäbe unglaublich groß.
Ihre gesamte Haltung – die vorgezogenen Schultern, der runde Rücken, der gesenkte Kopf, die verschränkten Arme – machen schon von weitem klar, dass sie sich unsichtbar machen möchte. Mit solchen Dingen kenne ich mich aus.
Während sie ihre Taschen umständlich auf den Stühlen verstaut, versucht sie die Pfiffe vom Nachbartisch zu ignorieren und setzt sich. Ihre Reaktion erinnert mich an mein eigenes Verhalten, wenn ich wieder einmal unfreiwillig in den Mittelpunkt gerückt werde. In diesen Augenblicken kämpft der letzte Rest Würde darum, zumindest nach außen hin cool zu wirken.
Mir fällt auf, dass ihr Gesicht markante Züge hat, wenn auch noch ihre Pickel davon ablenken. Ich bin mir sicher, dass sie in wenigen Jahren eine Schönheit sein wird. Noch scheint ihr das nicht bewusst zu sein. Ihre großen, dunklen Augen mit den dichten Wimpern zeigen nur Unsicherheit und, ja, sogar ein wenig Schmerz.
Tja, jeder hat seine eigene Geschichte. Wer weiß, mit dieser Größe in ihrem Alter hat sie es bestimmt auch nicht leichter als ich es damals hatte. Die lieben Mitschüler können einem ganz schön das Leben zur Hölle machen.
Mir fällt auf, dass ich gerade selbst zum Gaffer geworden bin und versenke meinen Blick wieder im Münzfach meines Portemonnaies.

Nur einen Moment später brechen die Typen in Gelächter aus, und es ist leider unmöglich zu überhören, dass sie es komisch finden, gemeinsam mit Schneewittchen und einem Zwerg im selben Raum zu sitzen. Meine Tischnachbarin zuckt zusammen und versinkt regelrecht in ihrem Stuhl.
Als das Trio sich dann auch noch lautstark vorstellt, welche Verrenkungen eine Giraffe wie sie anstellen müsste, wenn sie mit einem Zwerg wie mir zusammensein wolle, gelingt es mir nicht länger, auf mein Kleingeld zu starren. Ein Blick zu meiner Tischnachbarin verrät mir, dass sie diese Worte tief treffen. Hinter dem Vorhang ihrer Haare kann ich erkennen, dass sie sich auf ihre Lippen beißt und um Fassung ringt. Dann macht sie sich daran, ihre Sachen wieder zusammenzuraffen.
Diese gedankenlosen Scheißkerle! Sie ist noch ein Mädchen, verdammt nochmal.

Normalerweise würde ich es wieder einmal ignorieren, ist schließlich Energieverschwendung, sich ständig zu verteidigen. Aber jetzt spüre ich ein Brodeln in mir, und ich habe Lust, die heiße Wut rauszulassen.
Um nicht wieder einmal als Giftzwerg oder Rumpelstilzchen verhöhnt zu werden, hole ich tief Luft und kühle die Hitze in meinem Bauch mit dem letzten Rest des kalten Kaffees. Dann knalle ich ein paar Münzen auf den Tisch, und rufe den Idioten laut zu: „Schneewittchen und ihr Zwerg sind im falschen Märchen gelandet. Das hier ist aber anscheinend eine Geschichte für respektlose Dummköpfe, da haben höchstens die drei kleinen Schweinchen Platz.
Kleiner Tipp noch: Vorsicht vor dem bösen Wolf, er wird euch das Strohdach vom Kopf pusten und mit Haut und Haaren verschlingen. Schönen Tag noch!“

Eine ältere Dame applaudiert mir, während ich mit dem Mädchen das Café verlasse. Ich fühle mich dabei echt gut, und ausnahmsweise richtig groß.

 

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