Von Kate Rogers

Verwirrt schlug ich die Augen auf. Wieso lag ich in einem großen Bett mit Baldachin und nicht in meinem kleinen Bett in der Hütte der sieben Zwerge? Was war geschehen? – Dann fiel es mir wieder ein. Meine Stiefmutter hatte mich mit einem Apfel vergiftet und ich war in einen todesähnlichen Schlaf gefallen, bis der Prinz meiner Träume kam und mich wachküsste und mitnahm auf sein Schloss. Hier war ich also, weit weg von meiner Stiefmutter und glücklich vereint mit meinem Prinzen.

In diesem Moment wurde die Türe zu meinem Zimmer weit aufgerissen und eine ältere Dame stürmte an mein Bett und musterte mich missbilligend von oben bis unten. Unter dem Blick ihrer eiskalten, grauen Augen wurde mir ganz mulmig. Ich zog die Bettdecke bis unter mein Kinn und machte mich ganz klein.

„So, du bist also Schneewittchen“, kam es aus dem Mund der Dame, „das Mädchen, dass mein missratener Sohn heiraten will. Ich bin Brunhilde, die Königin und ich weiß wirklich nicht, was sich mein Sohn dabei gedacht hat, dich hier unangekündigt anzuschleppen!“. „Na, großartig“, dachte ich, „vom Regen in die Traufe“. Das fing ja gut an. „Nun steh schon auf!“, herrschte mich Brunhilde an. Verlegen stieg ich aus dem Bett. Schließlich hatte ich keine Ahnung, was ich überhaupt anhatte. Ich hatte keine Erinnerung an den Abend meiner Ankunft. Zögernd setzte ich einen Fuß aus dem Bett und stellte zu meiner Erleichterung fest, dass ich immer noch mein Kleid anhatte.

„Schläft man bei euch immer in den Kleidern des Tages?“, fragte da auch schon meine zukünftige Schwiegermutter. Verlegen antwortete ich: „Nein, üblicherweise schlafen auch wir hinter den Bergen bei den sieben Zwergen in unseren Nachtgewändern, aber leider hatte ich keine Zeit, noch Koffer zu packen, bevor ich in meinen totenähnlichen Schlaf fiel, aus dem mich dein Sohn errettet hat.“ „Frech und vorlaut ist sie auch noch! Na, das werden wir dir schon noch austreiben“, sagte darauf Brunhilde.

Es klopfte an der Tür und mit einem verlegenen Räuspern trat mein Prinz ein. Groß, dunkle Haare und diese unglaublich blauen Augen ließen mich augenblicklich vergessen, dass vor mir die Reinkarnation meiner Stiefmutter stand. Diese hatte ihren Anschlag auf mein Leben nämlich mit ihrem eigenen bezahlt. Das Problem war ich also los. In meinem Schlafgemach stand aber immer noch mein neues Problem, Brunhilde die Königin. Der Prinz beugte sich zu seiner Mutter und sagte: „Würdest du uns für einen Moment entschuldigen, Mutter?“. „Es schickt sich nicht als Mann alleine im Schlafgemach einer Dame zu sein“, wandte sie ein. „D.. Da… Das ist schon okay“, stammelte ich. Das musste ich mir wirklich abgewöhnen. Ich durfte mich nicht so von ihr einschüchtern lassen. Jedenfalls hatte sie mich wohl gehört, denn sie ging wutschnaubend aus dem Raum und ließ die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zuschlagen.

Mein Prinz entschuldigte sich sofort für das Verhalten seiner Mutter. Sie sei nach dem Tod des Vaters im vergangenen Jahr noch nicht wieder ganz die Alte und würde ihn oft mit ihrer Fürsorge erdrücken. Sie mache sich immer Sorgen um ihn und sähe in jeder Frau offenbar eine Konkurrentin.

Er kniete vor mir nieder, nahm meine Hände zärtlich in die seinen, sah mir tief in die Augen und sagte: „Willst du mich heiraten?“. Wollte ich? Ich war mir nicht sicher, ob ich mit seiner Mutter zurechtkommen würde. Außerdem kannte ich ihn ja eigentlich gar nicht. Ich meine, ein einsames Treffen am Brunnen, ein Lied und ein Tanz, das war wohl kaum eine Basis für ein gemeinsames Leben, auch nicht mit einem Mann, der so unverschämt gut aussah, wie er. Ich kannte nicht mal seinen Namen.

Das Alles schoss mir in Sekundenbruchteilen durch den Kopf. Er sah mich immer noch mit diesen unglaublich blauen Augen an. Ich senkte den Blick und hauchte: „Ich weiß es nicht. Bitte versteh mich nicht falsch, du bist ein toller Mann, aber ich kenne dich ja gar nicht. Ich will das nicht überstürzen. Ich brauche mehr Zeit, um dich kennen zu lernen. Ich weiß nicht einmal, wie du heißt.“ Ich konnte die Enttäuschung in seinem Blick sehen. Innerlich stellte ich mich darauf ein, meine Sachen zu packen und zurück zu den Zwergen zu gehen, da hörte ich ihn sagen: „Ich verstehe. Das Problem mit dem Namen lässt sich schnell lösen. Ich heiße Daniel. Deine anderen Einwände kann ich nicht so schnell entkräften. Es fällt mir zwar nicht leicht, aber ich bin bereit zu warten. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Du kannst hier im Schloss bleiben, wir richten dir ein paar Räume im Ostflügel ein. Das ist weit genug weg, von den Gemächern meiner Mutter. Dann können wir uns besser kennen lernen. Aber ich werde dich immer wieder fragen, solange bis du JA sagst.“ Mein Herz machte einen Freudensprung, das klang besser als erwartet. Eigentlich war ich auch total verliebt in ihn. Schmetterlinge im Bauch und das volle Programm, aber gleich heiraten?

Daniel stand auf. „Ich besorge dir etwas anderes zum Anziehen und dann gehen wir frühstücken. In der Zeit können die Angestellten, die Räume im Ostflügel vorbereiten. Dann kannst du gleich schon einziehen. Für heute Nachmittag lasse ich dann die Schneiderin meiner Mutter kommen und du bekommst eine eigene Garderobe. Damit Mutter nichts mehr an deinem Äußeren auszusetzen hat.“ Ich nickte, obwohl ich nicht sicher war, ob es mit einer neuen Garderobe getan war. Seine Mutter hatte definitiv nicht nur ein Problem mit meinem Äußeren.

Kurz darauf klopfte es erneut an der Tür und ein schüchternes junges Mädchen betrat den Raum und stellte sich als Luise vor. Offenbar bekam ich gerade meine eigene Zofe. Sie half mir aus meinem Kleid und ich schlüpfte in das mitgebrachte Kleid, das relativ gut passte, obwohl ich persönlich die Farbe nicht mochte. Rosa, ich musste mich schütteln, als ich mich im Spiegel betrachtete. Ich sah aus, wie ein farbenblindes Schulmädchen beim Abschlussball.

Luise bändigte noch meine Haare in eine anständige Hochsteckfrisur und brachte mich zum Frühstücksraum. „Das wurde aber auch Zeit! Ich habe Hunger und warte schon seit Stunden hier auf euch, wo ist denn Daniel?“ Brunhilde! Und kein Daniel weit und breit. Mir verging der Appetit. Ich wollte mir aber nichts anmerken lassen und setzte mich auf einen der freien Plätze neben Brunhilde.

Wo blieb Daniel nur? Eine weitere Bedienstete fragte mich, ob ich Kaffee trinken würde und füllte nach meiner Zustimmung meine Tasse mit Kaffee. Ich nahm mir Milch und trank einen tiefen Schluck. Das tat gut. Innerlich gewappnet wandte ich mich an Brunhilde und wollte gerade höfliche Konversation betreiben, als sich die Tür öffnete und Daniel eintrat: „Entschuldige meine Verspätung, Mutter, aber der Verwalter hatte noch eine Frage.“ „Und das hatte nicht Zeit bis nach dem Frühstück? Wir sind sowieso schon viel zu spät dran!“ Das ging eindeutig gegen mich. Ich antwortete: „Leider bin ich mit den Gepflogenheiten hier noch nicht vertraut, aber wenn du mir sagen könntest, wann die Mahlzeiten stattfinden, werde ich zukünftig pünktlich da sein.“ Brunhilde murmelte etwas, das wie: „Das wollen wir doch stark hoffen“, klang und wandte sich dem Frühstück zu.

Bei den sieben Zwergen waren die Mahlzeiten immer sehr fröhlich und unterhaltsam gewesen. Hier wurde in eisigem Schweigen gegessen. Mich schauderte, das sollte jetzt mein Alltag werden? Gruselig!

Als Brunhilde das Frühstück beendet hatte, legte sie ihr Besteck beiseite und fing an, mich auszufragen. Wo ich herkam, was ich bisher gemacht hatte, wieso meine Stiefmutter mich so gehasst hatte usw., usw. Wie Pistolenschüsse feuerte sie ihre Fragen ab. Ich kam mir vor, wie bei einem Verhör. Daniel bemerkte mein Unbehagen und beendete die Fragestunde schließlich mit einem: „Dafür haben wir doch auch später noch genug Zeit. Ich würde Schneewittchen jetzt wirklich gerne das Schloss und ihre Gemächer im Ostflügel zeigen. Ich bin sicher, die Dienstboten haben schon alles vorbereitet.“

„Gemächer im Ostflügel?“, Brunhilde fiel beinahe in Ohnmacht. Ihre Augen quollen aus den Höhlen und sie schnappte hektisch nach Luft, wie ein Fisch auf dem Trockenen sah sie aus. Für einen Moment machte ich mir ernsthaft Sorgen, aber dann nahm sie noch einen tiefen Atemzug und legte los: „Du willst diese Person tatsächlich im Ostflügel unterbringen und noch dazu direkt in mehreren Zimmern? Glaubst du denn, unser Personal hat nichts anderes zu tun, als für deine Romanze zu arbeiten? Was erlaubst du dir eigentlich, dies alles ohne Rücksprache mit mir in Angriff zu nehmen? Ich bin schließlich immer noch die Königin und hier passiert nichts ohne meine Zustimmung!“

Ich erhob mich langsam und vorsichtig von meinem Platz und schlich leise zur Türe hinaus. Ich hätte mir aber gar nicht so viel Mühe geben müssen. Die beiden waren so in ihren Streit vertieft, dass sie gar nicht bemerkten, dass ich weg war. Ich ging langsam den weiten Gang hinunter. Immer noch konnte ich die hysterische Stimme der Königin hören und auch die tiefere Stimme von Daniel. Mein Traumprinz! Aber wollte ich hier leben? Mit dieser Bestie in Menschengestalt? Die mir keine Chance gegeben hatte und auch niemals eine geben würde? Mein Herz wurde schwer und auch meine Beine waren schwer wie Blei und ließen sich kaum noch von der Stelle bewegen. Aber ich konnte hier nicht bleiben. Da würde ich lieber zurück in den finsteren Wald gehen. Vielleicht konnte ich wieder bei den Zwergen wohnen oder zurück in mein eigenes Schloss? Schließlich war meine böse Stiefmutter tot.

Ich machte mich auf die Suche nach meinem Zimmer. Dort traf ich Luise und bat sie, mir mein eigenes Kleid wieder zu geben und mir beim Umkleiden zu helfen. Als ich umgezogen war, verließ ich das Zimmer und suchte mit tränenden Augen nach dem Ausgang aus diesem vermaledeiten Schloss. Zufällig fand ich die Küche und an deren Ende eine kleine Tür, die ins Freie führte. Von dort war es nicht mehr weit bis zum Schlossgraben. Ich ging durch das große Tor über die Brücke zurück in die Freiheit. Mein Glück ließ ich zurück bei Brunhilde.

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