Von Felicitas Jacobs

Gregor starrte auf den Bildschirm. Eine scharfe Sache sollte das Leben sein, scharf wie ein Messer, Sex oder mexikanischer Chili. Das war der Satz, der dort hätte stehen sollen, doch er sah nur flirrende Buchstaben, die freiheitssuchend auf der Stelle tanzten, so nervös, dass er das „e“ kaum vom „a“ unterscheiden konnte. Gregor zoomte die Textzeile auf 14Pkt, dann 16Pkt, zum Schluss 20Pkt, aber wirklich besser wurde es dadurch nicht. Er wechselte die Schriftart, die Farbe, doch was er auch tat: Der Satz blieb unscharf. Wütend klappte er den Laptop zu. „Karin“, rief er laut in Richtung Flur. 

Sie hatte sich wahrscheinlich wieder zurückgezogen in die Küche – der einzige Teil des Hauses, wo es immer warm war – und hörte ihn nicht. Auch die Handys funktionierten, wenn überhaupt, nur in der Eingangshalle.

Gregor seufzte. Er hasste es, über brüchige Treppen und lange Flure in den Ost- oder Westflügel zu gelangen oder sonst wohin in diesem verwinkelten Gebäude. Und alles nur, um Banales mitzuteilen oder zu erfragen. Wohin hast du die Butter getan, ich finde meine Brille nicht, hast du sie gesehen, du wolltest Seife besorgen, wo ist sie denn nun. „Karin, du hast irgendwas an den Einstellungen am Laptop geändert, verdammt nochmal, der Text ist unscharf. Was hast du heute Morgen gemacht mit dem Ding? Karin…???“ 

Mindestens einmal am Tag verfluchte er den Tag, an dem Karin ihr Erbe angetreten hatte, einen alten, zur Zeit wegen verstopfter Kamine nicht beheizbare Kasten aus dem achtzehnten Jahrhundert, für den sogar die untergegangene DDR keine Verwendung gefunden hatte, da die Kosten der Sanierung von Beginn an ins Unermessliche gestiegen wäre. 

Aber dennoch. Sie zogen aus Berlin Mitte raus und in diese „Villa“ hinein. Wer hätte auch ahnen können, wie anstrengend das Leben hier schon im Herbst sein konnte, wenn die ersten kalten Nächte feucht unter dicke Daunendecken krochen und das Unkraut im Garten sogar im Winter wucherte, grimmig entschlossen, ihnen das Leben schwer zu machen.

Wie zum Henker sollte das mit einem Restaurant hier funktionieren? Doch Karin wischte seine Bedenken mit leuchtenden Augen beiseite. „Ein Restaurant braucht zwei Dinge: Erstens einen guten Koch. Also mich. Zweitens eine gute Location. Und das hier ist eine gute, nein, eine tolle Location! Unsere Villa liegt im S Bahn Ring der Hauptstadt. Die Bushaltestelle nur zwanzig Minuten Fußweg entfernt. Parkplätze ohne Ende. Idyllisch im Wald gelegen. Wie Rotkäppchen werden die Gäste kommen, Blumen auf dem Weg pflücken…“

„…bis der Schulden-Wolf sie fraß“, fuhr Gregor fort. 

„Miesmacher“, antwortete Karin. „Sieh‘ doch mal die Ressourcen: Wir brauchen keine Vintage Retro Atmosphäre zu designen, wir haben sie schon. Nur eine Heizung für den Schank- und Speisenraum müssen wir auftreiben im Winter. Das ist alles. Die Leute stehen auf schräge alte Möbel im Patchwork Stil. Der Mangel, der Fehler, das alles ist Teil unserer Location, verstehst du? Unsere Gäste werden es lieben.“ 

Karin war nicht aufzuhalten. Ihre grünen Augen strahlten ihn an, umrahmt von schwarzen Locken, die mühsam durch ein Band gehalten wurden. Er hätte zu gerne gewusst, warum diese bildschöne Frau sich für ihn entschieden hatte, einen langweiligen Berliner Hipster mit Talent für alles und nichts und einem lähmenden Hang zu grüblerischen Episoden. Aber diese Frage zu stellen traute er sich nicht. 

Gregor klemmte sich den Laptop unter den Arm und machte sich auf den Weg. „Wo bist du, verdammt nochmal…!!!“ Er stieg die breite Wendeltreppe hinunter, achtete auf die gelockerte achtzehnte Stufe und wandte sich nach rechts zur Küche. „Und? Wie weit bist du mit der Speisekarte?“, empfing ihn Karin, während sie konzentriert mit der linken Hand rührte und mit der rechten Kügelchen aus einer Dose griff,  zwischen den Fingern zu Pulver zerrieb und in den Topf rieseln ließ. Dabei machte sie eine Bewegung, die sich bis zu ihren Hüften ausdehnte und diese kurz wippen ließ. Selbst das sieht bei ihr aus wie Salsa-Tanz, dachte Gregor unvermittelt und ärgerte sich irritiert darüber. 

„Der Laptop ist hin“, sagte er schroff. „Aber die Menükarte muss jetzt endgültig zum Druck und online gestellt werden. Nur noch vier Wochen bis zur Eröffnung…“ 

Karin wandte sich zu ihm und hob an, etwas zu sagen. Er unterbrach sie mit gehobener Hand. „Du weißt schon, dass ein paar Gerichte beim Tagesmenü fehlen? Die 13, die 17, 20, 22…“

„…und die 29, ich weiß“, fuhr sie fort. „Ich habe aus jeder Kategorie ein Gericht gewählt und es geschärft für eine besondere Rubrik.“

„Geschärft?“ 

„Genau. Es gibt in unserem Tagesangebot ein paar Gerichte, die außerordentlich scharf sind. Und für die hab‘ ich mir eine neue Rubrik ausgedacht. Ich nenne sie im Moment noch Verschärfte Sache.

„Und das sagst du mir erst jetzt?“ 

„Na, du bist ja sowieso noch nicht fertig mit dem Layout, “ antwortete Karin. Sie rührte weiter, ohne ihn anzuschauen.

„Ah ja? Aber doch nur, weil der Laptop immer wieder abstürzt.“ 

„Na dann? Ist doch gut, sonst hättest du die Änderung in der Speisekarte gar nicht berücksichtigen können. Hier, greif mal in meine Schürze.“

Gregor trat zu ihr und zog zwischen krümelnden Petersilien einen mehrfach gefalteten Zettel aus ihrer Kitteltasche. Er sah sie fragend an. Karin nickte. „Dort stehen die Namen der neuen Gerichte und Zutaten. Es geht um mehr als nur Chili. Lass dich überraschen. Tipps einfach ab. Und dann hab‘ ich noch eine Idee…“

Ihre letzten Worte hörte er schon nicht mehr. Tipps einfach ab. Hallo?? Für wen hielt sie ihn? Gregor stapfte wütend in die Halle und wandte sich zur Eingangstür, hob den Holzlöffel an, den er als Ersatz für die kaputte Klinke gestern angebracht hatte und schob das schwere Türblatt scharrend über den Boden. Draußen empfing ihn der verwilderte Garten. Wie immer, wenn er über die drei kaputten Steinstufen nach unten gehüpft war, sich einen Weg bahnte durch zugewachsene Reste einer Kiesauffahrt und über wilde Kräuternarben stolperte, die Karin in schieres Entzücken versetzte, verspürte er eine stumm wachsende Wut. Er hatte keine Idee, wie er den Weg zum Restaurant für zukünftige Gäste in eine anständige Form bringen konnte. „Sollen die Leute am Gartenzaun in Gummistiefel steigen, damit sie zu uns finden?“ hatte er Karin gefragt. „Die Menschen lieben Abenteuer, sorge dich nicht, sei mutig“, entgegnete sie. 

Wie sehr er das alles satt hatte. 

Gregor schoss durch den Kopf, nach Berlin zu fahren und nicht mehr zurückzukehren. In der Hosentasche fühlte er den Autoschlüssel vom BMW. Sein Freund Tim hatte ihm den Wagen für drei Tage geliehen, weil ihr Volvo wieder mal den Geist aufgegeben hatte. Also gut. Er würde den Text für die Menükarte im Copy Shop zu Ende bringen, den Druck veranlassen, den BMW abgeben und den Volvo aus der Werkstatt holen. Und dann konnte er immer noch überlegen, wie es weiterging 

Während der Fahrt ging Gregor nochmals die Beschreibungen der einzelnen Gerichte durch, die er entworfen hatte. Starke Meerjungfrau – Broccoli umarmt Forellenbraut auf goldenem Senfacker. Oder auch Sanfter Engel –Bergkäseflocken schützen Kartoffelinseln mit Muh-Rufen. Na ja. Aber das hier war sein Bestes: Scharfe Sache – Chilibohnen demonstrieren gegen die Hackordnung. Was hatte Karin dem hinzuzufügen? Das war doch scharf genug? An einer Ampel nutzte Gregor die Wartezeit eines Staus, zog ihren Zettel aus seiner Hosentasche und entfaltete ihn auf dem Lenkrad: Menü 13. Liebesperlen im Wasabi-Rausch – und nach dem Braten eine scharfe Sex-Nacht für die Gewinnerin/den Gewinner, der die einzige grüne Wasabi-Nuss des Abends in der Pasta findet. Bitte beim Personal melden. 

Gregor starrte auf den Zettel. Bitte beim Personal melden. Hatte er das jetzt wirklich gelesen? Er wendete, fuhr auf der Landstraße ein Stück zurück und bog auf einem ruhigen Feldweg ein. Den Zettel behielt er in der Hand. Schweißperlen tropften auf das Papier. 

Er öffnete das Seitenfenster so weit wie möglich und las weiter: Menü 17. Rosenscharfes Abenteuer im Früchtebeet – Wer die winzige Chili-Schote unversehrt im Himbeeren Parfait findet, gewinnt eine scharfe Domina-Nacht. Bitte beim Personal melden. Und so weiter und so weiter. Die 22, die 26, die 29, alle scharfen Gerichte versprachen Sex, einen Schwinger, eine scharfe Nacht im Dornröschen-Schloss. Meinte sie das etwa ernst? Und wen um Himmels Willen meinte sie damit? Etwa sich selbst? Oder ihn? Gregor rührte sich nicht. 

„Hey! Raus aus dem Wagen, idiota,“ Der scharfe Klang einer unbekannten Stimme ließ ihn zusammenzucken. Mechanisch wandte er den Kopf zur Seite und starrte in ein maskiertes Gesicht. Ein Handschuh mit Messer zeigte auf seinen Hals. Ein extrem scharfes Santoku Profimesser, wie Karin es für teures Geld erst vor Kurzem erstanden hatte. Estas sordo oquè? Bist du taub?“, fuhr die Stimme fort. „Raus aus dem Auto. Und der Schlüssel bleibt drin.“ Willenlos öffnete Gregor die Autotür und stieg aus. Ohne jedes Gefühl registrierte er, wie der schwarz gekleidete Mann ihn mit dem Santoku in der Hand im Blick behielt und seinen Platz hinter dem Lenkrad einnahm. In letzter Sekunde, als der Wagen problemlos ansprang, warf er das Messer auf den Beifahrersitz, wendete gekonnt und bog mit quietschenden Reifen auf die Landstraße. In wenigen Sekunden war der BMW in der Ferne verschwunden. Gregor starrte ihm hinterher. 

Unversehrt in den Himbeeren. Wer gewinnt eine scharfe Domina-Nacht? Er sank auf den Boden und fühlte den trockenen Sand des Feldwegs unter seinen Händen. Wie sollte er jetzt die Menükarte auf den Weg bringen? Was würde Tim wegen des BMW tun? Wie kam er überhaupt nach Berlin? Und zurück nach Hause? In den Wald? Zum Restaurant- mit Sexabenteuern? Zu Karin, die viel zu schön für ihn war, zu unbeheizbaren Räumen?

Bitte beim Personal melden. 

Und ohne dass Gregor es hätte verhindern oder kontrollieren können, erfasste ihn ein Lachen. Erst leise, nur sein Kopf schüttelte sich ein wenig, bis irgendwann sein ganzer Körper bebte.

Er würde nicht mehr zurückkehren. So einfach war das.

 

Vs 2