Anne Moog

Tiere zu töten war gut. Damit konnte er seine Wut, seinen Hass, seine Trauer kanalisieren. Wenn er die Tiere tötete, hatte er Macht über sie. So wie sein Vater über ihn, wenn er ihn schlug und im Keller einsperrte. Er hatte mit kleinen Tieren angefangen, die Goldfische vertrocknen lassen, dem Meerschweinchen das Herz herausgeschnitten, der Katze die Gliedmaßen entfernt. Mit der Zeit waren die Tiere größer geworden. Er liebte das scharfe Messer in der Hand. Er liebte es, Blut zu sehen, zu riechen, zu spüren. Daher auch seine Vorliebe für die Farbe Rot.

Die Ärzte machten den brutalen Vater für sein Verhalten verantwortlich. In den Augen seines Vaters benahm er sich nicht wie ein richtiger Junge, weil er gerne mit Puppen spielte, weil er gerne sang und malte. Nach dem Tod des Vaters verließ er sein Heimatdorf und zog in die anonyme Großstadt. Dank der Medikamente und der regelmäßigen psychotherapeutischen Sitzungen glaubte er, seinen inneren Dämonen im Griff zu haben. Er führte ein unauffälliges Leben. Tagsüber arbeitete er in einer Metzgerei und abends ging er seinem Hobby nach, er malte. Er hatte schon lange kein Tier mehr getötet. Daher war er überzeugt, völlig gesund zu sein und setzte die Medikamente ab. Kontakte zu anderen Menschen hatte er keine. Bei den Kollegen galt er als „seltsam“, sie ließen ihn aber in Ruhe. Ansonsten kannte er in der Großstadt niemanden. Niemanden, der Gefühle bei ihm auslöste. Keine Gefühle, keine Dämonen. Am Wochenende war allerdings in der Wohnung nebenan eine junge Frau eingezogen. Sie hatte ihn mehrfach angelächelt …

***

Die erste eigene Wohnung. Klein, aber fein. Es fehlten nur noch Gardinen, Pflanzen und Bilder. Sie war glücklich. Das Hochhaus war von außen eher abschreckend. Auch empfand sie die langen Flure mit den vielen Wohnungstüren befremdlich. Das kannte sie nicht. Aber so war das nun mal in der Großstadt. In ihrem Heimatdorf wusste jeder alles, hier wusste keiner irgendetwas. So schön die Wohnung auch war, sie fühlte sich schon nach den wenigen Tagen einsam. Sie musste dringend Kontakte knüpfen. Mit ihrem neuen Job würde sie erst in vier Wochen beginnen. Das war noch eine lange Zeit. Beim Einzug hatte sie ihren Nachbarn gesehen. Einen gutaussehenden, freundlich dreinblickenden Mann in ihrem Alter. Sie hatte ihn angelächelt, aber er hatte weggeschaut. Er wirkte schüchtern. Wahrscheinlich war er auch ein Landei wie sie selbst. Heute Abend würde sie klingeln und sich vorstellen. Vielleicht könnten sie mal zusammen in die Kneipe gehen oder was zusammen kochen.

Es dauerte ewig, bis er die Tür einen Spalt öffnete. Er schaute sie überrascht an. „Ja bitte?“

„Hallo. Mein Name ist Mia. Ich wohne seit Samstag direkt neben dir.“ Sie zeigte auf den Rotwein.

Er schien etwas verwirrt zu sein. „Äähm, das ist ja nett, aber gerade sehr ungünstig. Ich … ähm, ich male.“

„Du malst?“ Sie lachte ihn an. „Das ist ja toll. Kann ich mal sehen?“ Sie machte einen Schritt auf ihn zu, so dass ihm nichts anders übrigblieb, als sie in seine Wohnung zu lassen. Er behielt die Pinsel in der Hand. „Ich heiße Marius.“

Sie steuerte direkt auf seine Gemälde zu. „Wow, die sind ja klasse.“

„Findest du?“ Er lächelte.

„Ja, wirklich. Ich verstehe ein bisschen was von Kunst. Vor meiner Lehre als Goldschmiedin habe ich in einer Galerie gejobbt. Da habe ich einiges gesehen.“ Sie betrachtete die Bilder eingehend. Sie ging ein Stück vor, dann wieder zurück. „Echt toll. Einziger Kritikpunkt. Mir persönlich sind die Bilder zu harmonisch. Die Blautöne sind wunderschön, aber … wenn ich das so offen sagen darf, auch ein bisschen langweilig. Außerdem ist Blau ja eine sehr kalte Farbe. Wie wäre es mit etwas mehr Rot? Rot steht für Leben, Liebe, Kraft, Energie … und noch für vieles mehr. Meines Erachtens könnten die Bilder etwas mehr Rot vertragen, so richtiges Blutrot.“ Sie lachte. „Verstehst du, was ich meine?“

Und wie er das verstand. „Ich bin nicht so der Rotfan“, stammelte er. Er musste sich zusammenreißen. Seine Gedanken und Gefühle überschlugen sich. Er starrte auf ihren roten Pulli, auf ihre roten Lippen.

„Oh, sorry, ich war mal wieder zu direkt. Ich sehe es an deinem entsetzten Blick. Vielleicht wolltest du meine Meinung gar nicht wissen?“

„Doch, doch. Wahrscheinlich hast du Recht. Ich überlege es mir. Aber heute mache ich nichts mehr, ich bin total müde. Lass uns ein anderes Mal weiter reden.“ Er zeigte auf die Wohnungstür. Sie war von seiner Reaktion etwas irritiert, gab sich aber selbst die Schuld dafür. „Okay, dann bis die Tage. Tschüss Marius.“ Sie drehte sich nochmal um. „Nochmal sorry für meine Ehrlichkeit.“

Sie ärgerte sich mal wieder über sich selbst. Er war so sympathisch gewesen und sie hatte es verpatzt. Wahrscheinlich hatte sie seine sensible Künstlerseele verletzt. Sie konnte nur hoffen, dass er nicht wirklich sauer war und sich bald bei ihr melden würde.

***

Den Mord an seinem Vater hatte man ihm damals trotz monatelanger Ermittlungen nicht nachweisen können. Jagdunfall war die offizielle Todesursache. Er erinnerte sich noch sehr gut an das befreiende Gefühl, ihn getötet zu haben. Ab da war alles besser geworden. Er verspürte keine Wut, keinen Hass und keine Trauer mehr. Er spürte seither gar nichts mehr. Bis zu dem Zeitpunkt, als Mia an seiner Tür geklingelte hatte. Sie war sehr hübsch und sehr sympathisch. So offen, so natürlich. Ihr hatten seine Bilder gefallen. Noch nie hatte ihn jemand so angelacht. Noch nie war jemand so nett zu ihm gewesen. Noch nie war jemand in seiner Wohnung gewesen. Er schwitzte, sein Pulsschlag war extrem hoch. Er dachte wieder an den roten Pullover, den Mia getragen hatte. An die roten Lippen. Rot wie Blut. Etwas in ihm regte sich, etwas, was er nicht kannte, etwas, mit dem er nicht umzugehen wusste. Etwas, was gegen den erwachten Dämonen kämpfte.

Tage später hatte sie ihm rote Acrylfarbe vor die Wohnungstür gestellt. Noch nie hatte ihm jemand etwas geschenkt. Einfach so. Er wusste jetzt, was zu tun war. Sie selbst hatte ihn auf die Idee gebracht. Er lachte. Er würde mit ihrem Blut das Bild „lebendiger“ machen …

***

„Ich danke dir für das tolle Bild, es ist wunderschön und verändert mein ganzes Wohnzimmer. Genauso habe ich es mir vorgestellt. Deine Idee, mich am Arm zu ritzen und mein Blut zu verwenden, ist zwar ein bisschen gruselig, aber irgendwie auch toll. Es ist unser intimes Geheimnis und macht das Bild zu etwas ganz Besonderem.“ Mia schaute ihn verliebt an.

„Was so ein bisschen Blut alles verändert.“ Marius lächelte.

Die Beiden lagen engumschlungen auf dem Sofa und betrachteten das Bild. Den irren Blick von Marius sah Mia nicht.