Winfried Dittrich

„Wo haben sie sie hingebracht?“, fragte Maran in die Runde.

„Wieder in die Anstalt, um sie zu untersuchen und vielleicht Versuche mit ihr zu machen“, sagte Strophe. „Das vermute ich zumindest.“

„Wie kommst Du darauf?“, fragte Log.

„Sie hat mir etwas anvertraut“, sagte Strophe, „und ich glaube sie haben es schon bemerkt. Sie ist schwanger.“

„Schwanger?“, platzte es aus Maran heraus. „Ich werde Vater!“

„Was? Du? Du hattest was mit ihr?“, stieß es aus Strophe heraus. Er baute sich vor Maran auf und wollte auf ihn losgehen.

Lysator ging dazwischen. „Ruhig, Jungs! Regt Euch ab. Wenn ihr aufeinander losgeht, dann hat keiner etwas davon. Wir haben hier drin nur uns Fünf. Also Piano. Ruhig jetzt!“ Lysator sprach laut und bestimmt, während er Strophe und Maran auseinander drückte.

„Ihr wart nicht die Einzigen, mit denen sie hier drin etwas hatte. Ich könnte auch der Vater sein“, sagte Log, der etwas abseits saß.

„Und ich auch“, sagte Lysator. Er bemerkte, dass Strophe und Maran sich langsam etwas entspannten. „Sie hat uns doch total herumkommandiert und um den Finger gewickelt.“

Damit war die Unterhaltung erst einmal beendet.

***

Ein Schlüssel drehte sich im Schloss der schweren Tür, die den Weg in die Freiheit versperrte. Vier Umdrehungen brauchte es, bis alle Riegel zurückgezogen waren und sich die Tür öffnete. Die Wärterin trat ein, brachte Wasser und stellte fünf Schalen ab. Dann drehte sie sich um, verließ den Raum und schloss die Tür wieder ab.

„Nur ein einziges Mal am Tag bekommen wir hier etwas zwischen die Zähne. Dieses Eingesperrtsein ist einfach schlimm“, begann Log die Unterhaltung wieder, während sich die anderen vier Insassen über die Mahlzeit hermachten.

„Wie finden wir denn nun heraus, wer der Vater ist?“, fragte Maran.

„Wir müssen mit Rina sprechen. Sie wird es uns wohl sagen können“, sagte Log.

„Wenn es jemand kann, dann sie“, sagte Lysator und nickte zustimmend.

„Und wie wollen wir das machen? Wie kommen wir zu ihr? Wir müssten dafür erst einmal hier ausbrechen und dann herausfinden, wo sie sich aufhält. Und wie kommen wir dann da hin?“, fragte Strophe.

„Log“, sagte Lysator, „Du hast doch bestimmt eine Lösung auf Lager, oder?“

Log schüttelte den Kopf.

„Wir bahnen uns den Weg mit Gewalt“, sagte Pult, der bisher still war. „Mit gezielt eingesetzter Gewalt.“

„Wenn wir erstmal hier raus sind und wissen, wohin wir müssen, dann finde ich irgendeine Möglichkeit, da hinzukommen“, sagte Maran.

„Ich vermute, dass Rina tatsächlich wieder in der Einrichtung ist, aus der sie ursprünglich gekommen war“, meinte Log. „Der alte Rakt erzählte immer Geschichten aus der Einrichtung, aus der er gekommen war. Der hat ja fast nichts mehr gesehen. Der konnte ja nur noch erzählen…“ – „Aber wie kommen wir nun hier raus? Ich glaube Gewalt ist keine Lösung für uns, Pult. Du bist zwar kräftig, aber nicht kräftig genug.“ Log war inzwischen aufgestanden und ging nachdenklich auf und ab.

In diesem Moment kollabierte Strophe und fiel wie ein nasser Sack zu Boden.

„Strophe, was ist mit dir los?“, rief Log voll Schrecken in seiner Stimme.

„Strophe!“, „Strophe!“, „Strophe!“, riefen Pult, Maran und Lysator fast zeitgleich.

Strophe lag regungslos da. War er ohnmächtig geworden? War er vielleicht tot? Maran sah sich Strophe etwas genauer an.

„Was hat er da zwischen den Zähnen? Ah, da ist etwas Rotes. Und hier, seht mal, in seiner Schale ist eine rote Frucht. Von der hat er etwas abgebissen“, sagte Maran.

„Ich glaube, er hat sich vergiftet. Dieser ewige Pechvogel!“ Log betrachtete die rote Frucht näher, roch daran und sagte: „Komodo Dragon, vermute ich.“

„Was bedeutet das?“, fragte Lysator und wollte nach der roten Frucht langen.

„Nicht anfassen“, rief Log, „das ist eine der schärfsten Chilischoten der Welt!“

Lysator wich zurück. Gemeinsam betrachteten sie abwechselnd die rote Frucht und den regungslosen Strophe. Log untersuchte Strophe, hob einzelne Glieder an und ließ sie auf den Boden zurück fallen. Sie waren schlaff. Kein Leben war mehr in ihnen.

„Strophe können wir nicht mehr helfen. Der hat wahrscheinlich einen Schock bekommen und ist jetzt tot“, sagte Log traurig.

Maran wurde nervös. „Verdammt! Wenn sie Strophe tot hier drin finden, was machen sie dann mit uns? Ich krieg‘ Panik!!!“

Nervosität, Unruhe und unkontrollierte Angst machte sich langsam bei allen breit.

„Maran, beruhige Dich. Bis morgen früh kommt hier keiner mehr vorbei. Wir haben Zeit. Wir können uns was überlegen. Du bist doch derjenige von uns, der schon in schwerem Fahrwasser navigiert hat. Bleib cool!“ – „Pult, Du entspannst Dich jetzt auch mal wieder!“ – „Und Du, Log, überleg‘ mal bitte. Du hast doch bestimmt noch was auf Lager.“ – „Alle jetzt mal ruhig, runterkommen und nachdenken. Wir finden bestimmt eine Lösung.“ Lysator versuchte Ruhe und Gelassenheit auszustrahlen, um diese belastete Atmosphäre zu bereinigen.

Dann kehrte langsam Ruhe ein. Log, Maran, Pult und Lysator setzten sich neben den leblosen Körper ihres Mitinsassen. Sie verharrten dort still und nachdenklich – jeder für sich.

***

Etwa drei Stunden später war die Beleuchtung des Raumes bereits im stark gedämpften Nachtbetrieb.  Die Stille wurde plötzlich durch ein leises Röcheln und Schmatzen durchbrochen.

„Boah, Leute…“

„Boah, Leute…“, hörte man es ganz leise von Strophes Kopf kommen.

„Boah, Leute. War das scharf!“

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Meldungen im Stadtanzeiger vom 29. Februar:

 

Tragisches Unglück und Einbruch in einer Nacht

Im Städtischen Tierpark hat es in der Nacht zu gestern ein tragisches Unglück gegeben, bei dem fünf Lemuren ihr Leben verloren. Eine Tierpflegerin fand die Kadaver beim morgendlichen Rundgang und alarmierte sofort den zuständigen Tierarzt. Jedoch kam jede Hilfe zu spät.

Die Tiere hatten sich anscheinend an ihrem eigenen Futter vergiftet. Wie es zu der falschen Fütterung kommen konnte ist derzeit unklar. Offenbar befand sich unter den an die Primaten verfütterten Früchten auch eine extrem scharfe Chilischote, die bei den Tieren einen tödlichen Schock hervorrief. Die zuständige Tierpflegerin verbrachte die Tiere in einen Untersuchungsraum des Primaten- und Affenhauses. Sie konnte zwar die Reste der Chilischote aus den Mäulern der Tiere entfernen, scheiterte aber mit Wiederbelebungsversuchen. „Ich habe erst noch Mund-Zu-Maul-Beatmung versucht, aber die Reste der Chilischote waren so scharf, dass ich mir erst einmal den Mund mit Milch ausspülen musste“, erklärte Cayenne Pfeffer am gestrigen Mittag bei einer Pressekonferenz des Tierparks.

Während sie auf den Tierarzt wartete und im Gehege nach weiteren Hinweisen suchte, seien die Kadaver auf unerklärliche Weise aus dem Untersuchungsraum verschwunden.

Derzeit wird von der Polizei ein Diebstahl vermutet. Kadaver dieser Art werden wegen ihrer unverwechselbaren, geringelten Schwänze zur Zeit zu hohen Schwarzmarktpreisen gehandelt.

Die fünf verendeten Tiere gehörten einem internationalen Zuchtprogramm für Zootiere an, weshalb ihr Verlust in zoologischen Kreisen als besonders tragisch bewertet wird.

 

Verkostung der pikanten Art

Der örtliche Club der Chilizüchter, „Inferno“ e.V., lädt am kommenden Wochenende in den Räumlichkeiten des Naturfreundehauses zu einer Chiliverkostung ein. Am Samstag können ab 14 Uhr neuere, besonders scharfe Chili-Züchtungen gekostet werden. Weißbrot und Milch sind von den Besuchern selbst mitzubringen. Anmeldungen werden unter pfeiffer@chilizuechter-club-inferno-ev.de bis zum 4. März entgegengenommen.

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Meldung im Stadtanzeiger vom 01. März

 

Richtigstellung

In unserem gestrigen Bericht über den tragischen Tod der fünf Primaten im Städtischen Tierpark haben sich leider Druckfehler eingeschlichen. Der Name der zuständigen Tierpflegerin lautet Cheyenne Pfeiffer und nicht Cayenne Pfeffer. Wir bitten hierfür um Entschuldigung.

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Meldung im Stadtanzeiger vom 03. März

 

Chiliverkostung abgesagt

Die für das kommende Wochenende geplante Chiliverkostung des Clubs der Chilizüchter, „Inferno“ e.V., im Naturfreundehaus wurde aus organisatorischen Gründen abgesagt.

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Meldung im Stadtanzeiger vom 13. März:

 

Tierpflegerin aus U-Haft entlassen

Nach dem tragischen Tod von fünf Primaten im Städtischen Tierpark vor gut zwei Wochen ist die im Primaten- und Affenhaus tätige Tierpflegerin Cheyenne P. aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Der gegen sie gerichtete Anfangsverdacht, die Tiere absichtlich mit einer Chilischote vergiftet und dann auf dem Schwarzmarkt veräußert zu haben, konnte nicht erhärtet werden. Die Beweislage reicht für eine Fortsetzung der Untersuchungshaft nicht mehr aus.

Nach Auskunft des Pressesprechers der Polizei, Ingmar Werner, gehen die Ermittlungen jedoch weiter. Indessen teilte der Tierparkleiter Dr. Scherenschleifer unserer Redaktion mit, dass die Tierpflegerin jedoch bis auf Weiteres freigestellt bleibt. Zwar ist der Verbleib der Kadaver weiterhin unklar, die Polizei hatte jedoch auf dem Balkon der Wohnung von Cheyenne P. zwischenzeitlich ein Gewächshaus mit Chiligewächsen der Sorte „Komodo Dragon“ sichergestellt.

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Meldung im Stadtanzeiger vom 15. März:

 

Totgeglaubte Tiere unversehrt aufgetaucht

Am vergangenen Sonntag sind die am 29. Februar verschwundenen und totgeglaubten Primaten des Städtischen Tierparks in einer internationalen Tierzuchtstation an der niederländischen Grenze aufgetaucht. Zur großen Überraschung der dortigen Pfleger und Biologen fanden sich die fünf männlichen Tiere leicht abgemagert, aber unversehrt im Zuchtgehege des Katta-Weibchens Rina. Katta Rina wurde im Januar und Februar dieses Jahres leihweise im Städtischen Tierpark gehalten, um es im Rahmen des internationalen Zuchtprogramms für die aus Madagaskar stammenden Tiere decken zu lassen.

 

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