Von Ute Freyschlag

In aller Herrgottsfrühe saß mir beim Frühstück ein munterer Herr gegenüber.
„Sind Sie auch aus Oberösterreich?“, fragte er und rührte beiläufig den Zucker in seinen Kaffee.
Es war mir also nicht gelungen, unentdeckt zu bleiben, verflixt!
Allerdings, möglicherweise wäre es nicht einmal Luis Smirnow, dem großen Smirnow, gelungen, in einem leeren Speisesaal, mit einer einzigen weiteren Person direkt vis-à-vis, unentdeckt zu bleiben.
Ich antwortete: „Ja schon, aber ich habe doch noch gar nichts gesagt. Wie kommen Sie darauf?“ Mein Dialekt hätte mich verraten, doch rein an meiner äußeren Erscheinung, dachte ich, konnte man eine solche Behauptung nicht festmachen. Oder doch? Was konnte man mir noch alles ansehen?
„Alle, die in dieser Pension absteigen, sind aus Oberösterreich, darum komme ich darauf.“, sprach er wissend.
„Aha.“, tat ich, als ob mir das einleuchtete. Wen das interessieren könnte, fragte ich mich im Stillen. Der frühstückende Herr wollte wohl mit einem müden Aufhänger eine Unterhaltung anregen, jedenfalls passend zur frühen Stunde.
„Gehen Sie auch auf den Kongress heute?“ fragte er gut gelaunt. Wirklich, sein Wille zum Plaudern war ein großer.
Ich dagegen war morgens nie recht gesprächig, doch war ich immerhin seit meiner Teilnahme am äußerst anregenden Seminar  – „Auftragsliquidation – authentisches Auftreten im Alltag“ – nicht mehr verlegen, wenn ich über meinen Beruf zu sprechen kam.
„Nein, ich komme nicht zum Kongress, bin aber trotzdem beruflich hier. Gestern hatte ich zwei Aufträge, heute sind es drei. Ich bin im Bereich der Liquidations-Dienstleistungen tätig, wissen Sie.“
Der Herr blickte von der Zeitung auf, die er nebenbei gelesen hatte. Sein Ausdruck war nicht mehr so heiter wie vorhin. Er beäugte mich prüfend einige Atemzüge lang, ich hielt seinem Blick natürlich stand und machte große, klare Augen. In diesem Moment entschied er sich, meine Angaben als eigenartigen Scherz einzuordnen: so eine harmlose Frau konnte keine Auftragsmörderin sein, das war gar nicht möglich, absurd, kein Beruf und überhaupt vollkommen abwegig. All das hörte ich buchstäblich durch sein Gehirn rattern und auch seine  Mimik verriet diesen Gedankenstrom. Anfangs senkte er die Brauen streng, eine dicke Falte erschien über der Nase; dann legte er die ganze Stirn in Falten und breitete ein großes Lächeln über sein Gesicht aus.
Genau diesen Ablauf hatte ich im besagten Seminar erklärt bekommen und schloss daraus, dass es sich um einen sogenannten „unschuldigen, unbedarften Gesprächspartner“ handelte.
„Liquidations-Dienstleistungen? Was soll das bedeuten?“, fragte er noch lächelnd, hielt mich aber streng fixiert und bedeutete mir damit, dass er eine ernsthafte Antwort erwartete, eine Antwort in seinem Sinn, eine Auflösung der Verwirrung, eine Erklärung für diesen abartigen Witz.
Damit konnte ich nicht dienen.
„Das ist meine Aufgabe. Ich führe Auftragsmorde aus.“, antwortete ich knapp. Ich wollte mich nicht länger für meine Arbeit schämen, das hatte ich wahrhaftig satt. Bewusst wandte ich mich ab und widmete mich meinem Frühstück, indem ich gewissenhaft Butter auf eine Semmelhälfte schmierte. Verunsichert durch meine Bestimmtheit versuchte er es mit einer abwehrenden Spott-Manier: mit schiefem Grinsen – einem klassischen Zeichen von Angst, wie ich wusste – startete er einen vollkommen vorhersehbaren, lächerlichen Versuch, sein Unbehagen zu überspielen: “Aha! Sie haben wohl Ihr Hobby zum Beruf gemacht? Haha! Haben Sie da auch eine Gewerkschaft? Muss man das studieren oder haben Sie eine Lehre gemacht?“
Seine Reaktion war ganz im Rahmen des „Reaktionen-Kataloges“, den wir im Seminar vorgestellt bekommen hatten, eben in der Kategorie „unschuldiger, unbedarfter Gesprächspartner“.
Solchen Fällen begegnet man mit entgegenkommendem Verständnis ihrer Sorge, ohne sie anzulügen, erinnerte ich mich professionell an das Gelernte.
„1) Angst nehmen 2) beschwichtigen 3) authentisch bleiben“, rezitierte ich innerlich die vorgestellten Schritte für den Umgang mit solchen Fällen und setzte sie sogleich in die Tat um.
“Ich weiß, die Berufsbezeichnung klingt etwas abstoßend oder gefährlich, aber Sie brauchen sich keine Sorgen machen. In Wirklichkeit müssen sich nur ganz wenige vor uns fürchten, und auch die fürchten sich nicht, da sie bis zum letzten Moment nicht wissen, was wir ihnen bringen.“
Meine Augen blieben weiterhin klar und offen und ich formte meine Wangen zu einem netten Lächeln. Ich hielt dieses Lächeln auch, während ich von meiner Semmel ein großes Stück abbiss und versuchte, es nicht einmal beim Kauen aufzugeben. Ungläubig starrte mich der Herr an, seine gute Laune war ihm nun gänzlich abhanden gekommen.
„Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen? Was bilden Sie sich eigentlich ein? Sie haben Glück, dass ich jetzt gehen muss – sonst komm‘ ich zu spät – am liebsten würde ich Sie anzeigen! Sie…! Sie….!“
Die dick angeschwollene Ader an seiner Schläfe verriet seinen hohen Ängstigungsgrad  – ich hatte ihn überfordert.
„Sie sind ja nicht ganz bei Trost!“ Damit schlüpfte er geschmeidig in sein feines, wahrscheinlich handgenähtes grünes Nadelstreif-Sakko und entfernte sich eilig.

Hach! Wenn ich da an den großen Smirnow dachte! Ich hatte ihn einmal beim Kongress der Vereinigung freier Scharfschützen und  Auftragsmörder als Gastredner erlebt und war nachhaltig beeindruckt gewesen. Seine Spezialität war es, unter allen Umständen unbemerkt zu bleiben, worüber er auch seinen Vortrag gehalten hatte und weswegen es ihm im Übrigen problemlos gelungen war, am Kongress überhaupt teilzunehmen. Schließlich hatte niemand seine Einreise in unser Land bemerkt, obwohl sein Phantom weltweit von allen großen Geheimdienstorganisationen gesucht wurde. Selbst als er am Rednerpult stand und mikrophonverstärkt referierte, bemerkte kaum jemand im Auditorium, dass hier einer der größten Fachmänner der Branche gerade sein Erfolgsgeheimnis preisgab.
Nur ich hing an seinen Lippen und notierte jedes Wort von ihm in das selbstredend unbemerkt verteilte Skriptum. Ich war immer schon sehr ehrgeizig gewesen und hatte mir zum Ziel gesetzt, das unbemerkt-Bleiben zu einer ebensolchen Perfektion zu bringen, wie Luis Smirnow. Doch leider war es mir bei diesem Frühstück ganz offensichtlich nicht gelungen.

Noch voll der ehrfürchtigen Erinnerung an den Meister machte ich mich an diesem Morgen auf den Weg zu meinem nächsten Abnehmer, den ich um exakt 09:13 Uhr an der Straßenbahnhaltestelle Praterhauptallee treffen sollte – im wahrsten Sinne, wohlgemerkt. Ich verließ also die in Oberösterreich anscheinend besonders beliebte Unterkunft in Richtung Westen, und erschrak vor dem Großaufgebot an Sicherheitskräften, das mich um die nächste Straßenecke erwartete. Kurz brach mir der Angstschweiß aus, aber schon nach wenigen Momenten hatte ich mich wieder vollkommen unter Kontrolle. Die vielen Schäferhunde, die an den Leinen der Polizisten hingen und in ihre Maulkörbe hechelten, waren schließlich genau auf die Marke Angstschweiß trainiert. Daher hörte ich sofort auf zu schwitzen und atmete ruhig weiter, während ich ein unbeschwert-fröhliches Lächeln aufsetzte, das so echt wirkte, dass ich mich augenblicklich und tatsächlich unbeschwert-fröhlich fühlte. Ich begann heiter zu pfeifen und näherte mich sogar zwanglos einem Polizisten mit Hund, um letzteren zu streicheln, wobei ich mich in diesem Moment doch selbst zurück pfeifen musste, denn das war übertrieben. Aber der Polizist winkte mir freundlich zu, der Polizeihund wedelte begeistert mit dem Schwanz, und man ließ mich ohne Weiteres die Umleitung für Fußgänger passieren. Unbehelligt wanderte ich vorbei an unzähligen gepanzerten Fahrzeugen der Exekutive, deren Blaulichter sich pulsierend drehten.
Was da wohl passiert sein mochte, fragte ich mich, nahm mir aber nicht Zeit, länger darüber nach zu denken. Ich hatte schließlich jemanden zu treffen. Darauf folgten zwei weitere Abnehmer, und als ich am Abend nach getaner Tat in meinem Pensionszimmer die Nachrichten verfolgte, war die erste Schlagzeile: 

“ Lange gesuchter Auftragsmörder in Wien endlich gefasst“. 

„Im 5. Wiener Gemeindebezirk wurde heute in einer groß angelegten und minutiös vorbereiteten Polizeiaktion der seit 24 Jahren gesuchte Berufsmörder mit dem Decknamen Luis Smirnow endgültig fest genommen.“ berichtete der Nachrichtensprecher, dabei sah man im Bericht genau den Beamten, der mir so freundlich zu gewunken hatte und dessen Hund ich fast gestreichelt hätte!
Kurz sah man den Verbrecher, wie er in den Blaulichtwagen getaucht wurde – dabei war mir etwas an ihm unerwartet vertraut. Erst nach längerem Nachdenken fiel es mir ein: das grüne Nadelstreif Sakko! Heute Früh beim Frühstück! Ich hatte genau dieses edle Tuch heute früh schon einmal gesehen! Der Herr mir gegenüber war am Ende des schwierigen Gesprächs genau in dieses Muster hinein geschlüpft.
Ich war entsetzt! Mein Vorbild! Mein Idol! Der große Smirnow! Gefangen von einfachen Polizisten mit ihren harmlosen Hunden. Und ich hatte ihn nicht erkannt!

Was für ein unwahrscheinlicher Könner dieser Smirnow doch war – zumindest bis heute Morgen!