Von Andreas Schröter

Ich sag’s nicht gerne, aber mein Sohn Ronny ist ein verpeilter Träumer, ein Hans-Guck-in-die-Luft, der nicht zuhören kann. Wie oft hab ich ihm gesagt: „Ronny, und jetzt hör bitte ein einziges Mal zu – wenn du durch die verdammte Wüste läufst, und du siehst irgendwas Gezacktes, das scharf aussieht, dann bleibst du davon nicht nur ganz weit weg, sondern läufst auch mit winzigen Schritten, die keinen Lärm machen, davon, okay?“

„Joo, bro, ist megaoki“ – und dabei tut der Spinner so, als sei er ein Rapper, indem er mit den Händen herumfuchtelt und mir dabei fast ins Auge sticht. Aber immerhin: Fast habe ich mich sogar gewundert, dass er mich unter seinen Riesen-Kopfhörern überhaupt gehört hat.

Zwei Tage später trotzdem dann das: Er rast durch die Wüste, als wollte er einen neuen Weltrekord im 400-Meter-Lauf aufstellen, macht dabei einen Höllenlärm und guckt sonstwo hin, aber mit Sicherheit nicht in die Richtung, in die er läuft. Und was passiert? Er rennt mit voller Wucht gegen was Scharfes und Gezacktes, was an diesem Tag warum zur Hölle auch immer aus dem Boden ragt und was am Tag zuvor noch nicht aus dem Boden geragt ist.

Nun ja.

Den ganzen rechten Fuß hat er sich dabei aufgerissen. Und ganz kleinlaut war er, als er mir das gebeichtet hat. Ganz ohne Rapper-Getue. Fast ein Flüstern war es, als er meinte: „Muss irgend ne scheiß Distel gewesen sein, bro.“

Ich holte natürlich sofort mein Fernglas und versuchte in der Richtung, aus der mein dusseliger Sohn gekommen war, irgendwas zu erkennen. Zuerst sah ich nichts Außergewöhnliches, aber dann doch: Ziemlich weit weg, das konnten tatsächlich an die 400 Meter sein, nahm ich etwas wahr, das ich vorher noch nie gesehen hatte, das aber in etwa so aussah wie die Zeichnungen in den alten Schriften, die ich viele Jahre zuvor einmal in den Händen gehabt hatte. Und wenn ich mich nicht vollkommen täuschte, obwohl das natürlich angesichts der Entfernung möglich war, dann zitterte dieses spitze und scharfe Dings etwas, was dort in der Wüste ganz klein auszumachen war.

Das war definitiv nicht gut, gar nicht gut.

Ich sollte Ihnen noch ein paar Basics mit auf den Weg geben, damit Sie verstehen, warum mir plötzlich heiß und kalt gleichermaßen war und warum ich kurze Zeit später in die Garage ging, um zu testen, ob der Astrostar startklar war. War er nicht. Aber nach zwei Stunden Arbeit war er es. Also: Ronny und ich lebten auf Taurus 5, einem Planeten, der zu großen Teilen aus Wüste bestand. Es gab vielleicht 1500 Einwohner in fünf großen Habitaten. Und sie alle fluchten ausnahmslos über diesen Ort. Der meistgebrauchte Satz auf Taurus 5 war: „Psssst, ich wollte, dass du es als Erster erfährst: Ich gehe bald hier weg.“ Auch ich habe das immer wieder gesagt, aber dann lernte ich Shaona kennen. Shaona kann ich Ihnen nicht beschreiben. Sie war dermaßen traumschön, dass ich minutenlang vergaß zu atmen, als ich sie das erste Mal sah (und prompt ohnmächtig wurde). Naja, um das abzukürzen: Wir heirateten, produzierten den Doofmann Ronny, sie setzte sich ins Shuttle nach Taurus 4 – und Tschüssikowski. Und ich sitze immer noch mit Ronny auf Taurus 5 und arbeite in der Wasserwirtschafts-Verwaltung – wichtiger Job in einer Wüste.

Und ich unterscheide mich in mindestens einer Hinsicht von meinen Mitmenschen: Ich bin wohl der einzige Bewohner auf dem ganzen gottverdammten Planeten, der es zumindest nicht vollkommen ausschließt, dass an den alten Legenden doch ein winziges Körnchen Wahrheit sein könnte. Und die gehen so: Vor 3000 Jahren war der gesamte Planet von einer Unzahl von Drachen bevölkert, die sich bis aufs Blut bekämpften. Sie waren derart viele und sie waren derart groß, dass ihre Raserei jedes Leben auf diesem Planeten bedrohte. Ihre Feuerstöße vernichteten nach und nach die gesamte Vegetation und verwandelten Taurus 5 in einen Wüstenplaneten. Trotzdem muss es der Bevölkerung von damals irgendwie gelungen sein, ein Mittel zu entwickeln, das die Biester in eine Art Schockstarre versetzte, die sie zwar nicht töten konnte, aber immerhin viele tausend Jahre – vielleicht sogar für immer – schlafen ließ.  Natürlich nur dann, wenn nicht irgendein Trottel gegen die Schwanzspitze eines dieser Drachen lief und ihn damit aufweckte. Vielleicht hatte besagte Schwanzspitze an diesem Tag nur zufällig aus dem Boden geragt, weil der dazugehörige Drache von wacheren Zeiten geträumt und sich dabei versehentlich bewegt hatte. Schon am nächsten Tag hätte sie vom Sand wieder im Boden begraben sein können. Denn laut Legende begruben die heftigen Sandstürme auf Taurus 5 die schlafenden Drachen nach und nach, und schon nach nur 300 Jahren glaubte so gut wie niemand mehr an ihr gefährliches Vorhandensein.

Schluss mit dem alten Zeug. Kehren wir zurück zum Tag 1 nach Ronnys Missgeschick. Der Blick durchs Fernglas verriet mir nichts Gutes: Das scharfe, gezackte Etwas schaute nun viel weiter aus dem Sand als am Tag zuvor und es zuckte nicht nur, es pendelte wild hin und her. Auch der Boden in unmittelbarer Nähe schien zu vibrieren. Irgendetwas höchst Mächtiges und Aggressives war dort begraben. Und ich wusste auch, was. Das Problem war: Wenn sich ein Drache erhob, würde er das mit so viel Getöse tun, dass davon auch die anderen Drachen erwachten. Noch hatte ich die leise Hoffnung, dass diesen einen Drachen doch wieder der Schlaf übermannen würde.

Diese Hoffnung verlor sich in der folgenden Nacht, als ich dieses Geräusch hörte:

Roooaaarrr!

Es war wegen der Dunkelheit nichts zu erkennen – bis auf den Feuerstoß natürlich, der plötzlich geschätzte vier Meter über dem Boden aufleuchtete. Mit dem ersten Licht im Morgengrauen sah ich, dass an vielen anderen Stellen der Boden vibrierte und sich seltsame Verwerfungen bildeten, so als würde etwas Großes von unten gegen den Sand drücken, um mit Gewalt an die Oberfläche zu kommen. Als auch unser Haus zu schwanken begann, schnappte ich mir den verdatterten Ronny, setzte ihn auf den Beifahrersitz des Astrostars, stieg selbst ein und sagte zum Bordcomputer: „Hal, bring uns hier weg. Impulsantrieb, bis wir die Atmosphäre verlassen haben.“

***

Auf unserem Weg ins All sahen wir viele andere kleine Raumschiffe, was mich freute. Die Bewohner von Taurus 5 waren vielleicht doch nicht so blauäugig, wie ich angenommen hatte. Auch sie hatten kleine Raumschiffe in der Garage stehen. Was sonst noch an uns vorbeiflog:

Drachengebisse

Drachenbeine

Drachenköpfe

Häuser

Unmengen von Sand

Schiffe

Autos

Toaster

Klopapier

Kondome

Bei Letzterem bin ich mir nicht ganz sicher, muss ich gestehen. Jedenfalls besagte die Legende auch, dass der Zusammenhalt des gesamten Planeten damals Schaden genommen hatte, weil durch die Feuerstöße der Drachen die Pflanzen ausgerottet worden waren. Ihr Wurzelwerk war es, das den Planeten in sich zusammengehalten hatte. Und diese Funktion übernahmen später die Gliedmaßen der vielen Millionen Drachen im Boden. Doch wenn die eben nicht mehr im Boden wären, könnte der gesamte Planet auseinanderbrechen. Nun, ich hoffte, dass zumindest dieser Teil der Legende nicht stimmte, denn sicherlich hatten nicht alle der 1500 Einwohner ein Mini-Raumschiff, mit dem sie fliehen konnten.

Aber wie dem auch sei: Ronny und ich würden es nicht ändern können. Ich beugte mich vor und sagte: „Hal, Warp 5, bring uns nach Taurus 4“. Vielleicht könnte ich ja mit Shoana nochmal neu anfangen.

Mit einem letzten Blick auf das weniger werdende Treibgut um uns herum meinte Ronny: „Megakrass, Papa – äh, bro!“