Nadja Kaspar

An unserem Steinhügel, nahe dem Fluss, sah ich die Glasscherbe liegen, dunkelblau schimmernd im Wintersonnenlicht.

Ich nahm sie auf und tauchte sie ins Wasser. Die Kälte schnitt in meine Haut. Ich musste mich ordentlich zusammennehmen, meine Hand nicht sofort zurückzuziehen. Es war, ja, es war wie ganz viele klitzekleine Glasscherben, die in meine Hand piekten. Mit der Zeit wurde die Empfindung auf der Haut schwächer, ich gewöhnte mich an die schneidende Kälte. Unvermittelt bekam ich einen verwegenen Gedanken: Wie wäre es wohl, ganz ins Wasser zu tauchen? Ich war jung, dreizehn Jahre alt, und so waren die inneren Stimmen, die an meine Vernunft appellierten, noch nicht besonders laut. Ich zog mich aus, bis auf die Unterwäsche, und tat ein paar Schritte ins seichte Wasser hinein.

In diesem Augenblick kam der Junge, mit dem ich nach der Schule  oft zusammen umherstreifte. Zuerst erschrak ich, doch dann machte auch er sich ohne zu zögern daran, seine Kleidung abzulegen, und wir begannen, uns gegenseitig anzustacheln. Wer geht zuerst?! Wer schafft es wie weit ins Wasser hinein?! Ich weiß noch, der Bauch war die empfindsamste Stelle, und als wir beide bis zum Nabel im eiskalten Wasser standen, schrien wir uns gegenseitig an vor Kälte, nein, vor Schmerz. Die Kälte spürte ich nicht, es war ein unsagbar scharfer Schmerz im ganzen Körper, auch an den Körperteilen, die sich außerhalb des Wassers befanden. Und wie wir schrien und quietschten und uns gegenseitig anfeuerten, noch weiter einzutauchen, ein paar Millimeter weiter, noch weiter, die Rippen, die Brust –. Und dann tauchte ich plötzlich ganz unter! Oh Gott, was tat ich da?! Gott, Gott, Gott! In meinem Kopf zog sich alles zusammen.

Ich tauchte auf, schnappte über Wasser nach Luft, bekam aber für eine ganze Weile keine. Der Junge stand vor mir, schaute mich an, bebend. Wasser tropfte von seinen dunkelblonden Haaren. Und dann prusteten wir los, viel zu laut, viel zu grell. Und wir sprangen und tobten, um diesen tausend kleinen Messern im Wasser zu entkommen, und wir jauchzten und quiekten und begannen uns gegenseitig nass zu spritzen.

Später saßen wir auf einem großen Stein am Ufer, dick eingepackt in unsere Wintermäntel. Noch immer vibrierte jeder Millimeter meines Körpers, war aufgeladen mit Lebendigkeit. Doch jetzt war es warm, so warm und lebendig. Unsere Wangen glühten und auch innerlich glühten wir, erzählten uns gegenseitig unsere Gedanken und fingen an, daraus Geschichten zu spinnen. Bis wir langsam ruhiger und friedlicher wurden. Der Junge zog seinen Rucksack heran und holte Käsestullen, Gurkenscheiben und Cracker hervor. Ich hatte einen kleinen Pott weißen Honig dabei.

Wir rutschten ein wenig näher zusammen, weil es irgendwann doch wieder etwas kälter wurde. Ich dachte bei mir, dass es schön wäre, ihn zu küssen, diesen Jungen, und es kribbelte in meinem Unterbauch. Es war dämmrig geworden, was gut war, so konnte er meine verfärbten Wangen nicht sehen. Still saßen wir da. Alle Worte waren längst aus uns herausgesprudelt.

Und da, genau in diesem Augenblick, wusste ich, dass ich mein Herz verschenkt hatte.

***

Bei dieser Erinnerung fange ich leise an zu weinen. Dort unten, am Fluss, den Geschmack von Honig im Mund, habe ich sie zum ersten Mal gespürt, die wilde Liebe. Natürlich hat sie sich in all den Jahren und Jahrzehnten zähmen lassen, ist häuslich geworden, angepasst, gesellschaftstauglich. Gewöhnlich. Wie soll man es auch aushalten, sein ganzes Leben im heißen Liebesrausch zuzubringen. Doch nun, wo nur noch Tage bleiben, vielleicht Stunden, flackert das wilde, ursprüngliche Gefühl wieder auf. Für Sekunden vielleicht, aber es ist da, ebenso lebendig. Ich trete an sein Bett, hole seine knorrige, aber doch warme Hand unter dem weißen Laken hervor und lege behutsam die blaue Scherbe hinein. Sie ist milchig blau, die Ränder weich abgeschliffen. Ich schließe seine Finger darum, lege meine Hände um seine Hand, und während ich unsere gemeinsamen braunen Flecken zähle, weiß ich, dass ich seine Hand und unsere Erinnerung halten werde, bis zum Schluss.

  

Version 2