Von Klaus Frank

Stephan Nowitzki blickte auf die starren Körper, die sich vor ihm zu einem beachtlichen Berg auftürmten. Die verdrehten Arme und ineinander verhakten Beine, die manchmal auf den Rücken gedrehten Gesichter setzten etwas in ihm in Gang, das ihm nicht gefiel. Ihre Blicke versetzten seine Eingeweide in Aufruhr. Seine weit aufgerissenen Augen huschten im rasenden Tempo hin und her, bis er befürchtete, sie würden ihm aus den Höhlen springen. Dabei war ihm diese Konfrontation keinesfalls fremd, und er hätte vermutet, endlich davor gefeit zu sein. Seit rund zwei Jahren erhielt er zum Ende der Saison einen Auftrag vom Lagerhausbetreiber, die ausrangierten Schaufensterpuppen zu beseitigen, was bedeutete, dass er sie in einen riesigen Container werfen musste, der schließlich abtransportiert wurde. Ein würdeloses Ende, fand Stephan, schließlich waren sie, wenn sie angekleidet im Kaufhaus standen, genauso hübsch anzuschauen wie Models, die über einen Laufsteg stolzierten. Die Mannequins von Primark, dachte er und kicherte.

Es war eine elende Schinderei. Eine Puppe wog nicht besonders viel, aber sie kauerten zu Hunderten vor ihm, und irgendwann schien es so, als trügen ihre Leiber einen Bleimantel. Aber der Job wurde gut bezahlt, und als Student wusste er das zu schätzen. Dennoch hatte er schlechte Laune. Es war bereits nach sechs, und von Kevin Schupp, der ihm helfen sollte, war keine Haarsträhne zu sehen. 

»Verdammter Affenarsch!«, knurrte Stephan. Er hatte Schupp vor einigen Tagen im Büro des Lagerhausbetreibers kennengelernt und sofort eine instinktive Abneigung gegen ihn empfunden. Mochte daran liegen, dass Schupp ein Ausbund an Nervosität war und obendrein die Gewohnheit besaß, ständig mit den Augen zu blinzeln, wie wenn er auf eine Verbrüderung mit seinem Gegenüber aus war. Stephan fühlte sich in seiner Nähe unwohl. Dennoch wäre ihm lieb gewesen, wenn Schupp endlich eintreffen würde. 

Die Puppen starrten ihn an, und ein neuerlicher Schauder fuhr über seinen Rücken. Immer dann, wenn er nicht genau hinschaute, glaubte er, eine Regung aus den Augenwinkeln zu sehen; das Heben eines Armes oder ein Beinzucken. Er wusste, heute Nacht würden finstere Träume zu ihm ins Bett schlüpfen wie ein missgelaunter Liebhaber. Das war immer so gewesen. Sie ließen ihn schweißnass erwachen. In den Träumen sah er sich einer Armee aus nackten und zerstörten Schaufensterpuppen gegenüber, die sich ihm schlurfend näherten. Vielleicht sollte er sich mit dem Gedanken anfreunden, dass dieser Job einfach nichts für ihn war.

Er packte eine Puppe und wuchtete sie hoch. Sie war zwar vollkommen haarlos, was sie weniger menschlich machte, aber dennoch stierte er für einige Sekunden auf ihre nackten Brüste, deren perfekte Gleichartigkeit ihn berührte. Er warf sie sich über die Schulter. Das rechte Schultergelenk war zerstört, sodass ihr Arm mit jedem Schritt, den Stephan tat, gegen seinen Bauch schlug. Er hievte die Puppe mit einem Stöhnen über den Rand des leeren Containers und ließ sie fallen. Gleich darauf erfolgte ein Dröhnen, als sie aufschlug, und er zuckte leicht zusammen.

Er ging zurück und wollte sich die nächste Puppe greifen, da vernahm er ein leises Geräusch. Es klang, wie wenn ein Leib sich geregt hätte. Stephan sprang mit einem weibischen Aufschrei zurück. Mit weit aufgerissenen Augen schaute er auf die Körper, die wie in einem Massengrab übereinandergeschichtet vor ihm lagen. Angst flatterte wie ein aufgescheuchter Vogelschwarm in ihm umher.

Da war nichts, sagte er sich, vielleicht ist eine dieser verdammten Puppen ein wenig hinabgerutscht. Sonst nichts. Bleib ruhig, Mann!

»Buh!«, machte eine von ihnen. Diesmal kreischte Stephan vor Panik und rannte bis zur gegenüberliegenden Wand zurück. Adrenalin peitschte durch seinen Körper. 

Dann hörte er ein Lachen und eine Gestalt, halb verdeckt von den Puppen, rutschte zu ihm hinunter. Stephan vermochte kaum zu glauben, wen er vor sich hatte. »Kevin?«, murmelte er. Sein Kollege, ebenfalls Student, konnte sich vor Lachen kaum halten.

Mit hochrotem Gesicht prustete er schließlich los: »Du müsstest dich sehen, Mann! So einen dämlichen Gesichtsausdruck hab ich noch nie gesehen.«

»Du verdammter …!« Stephan wusste nicht, was er sagen sollte. Er fühlte immer noch den Schreck in seinen Gliedern. Seine Hände zitterten haltlos, und sein Atem ging so hastig wie nach einem schnellen Lauf.

»Hab doch nur Spaß gemacht. Wusste nicht, dass du so leicht umzuhauen bist« Kevin Schupp schlug seinem Kollegen jovial auf die Schulter. »Na, dann lass uns mal anfangen, bevor du dich noch einnässt.« Kichernd wandte er sich um.

»Du verdammter Ochse!«, schrie Stephan. Sprühend flog ihm der Speichel von den Lippen. Bodenlose, gefräßige Wut saß in seinem Schädel wie eine Spinne in ihrem Netz. Er rammte Kevin seine Schulter in den Rücken. Sein Kollege stieß einen gurgelnden Schrei aus und stolperte ungelenk nach vorn, bis er das Gleichgewicht verlor. Dröhnend stieß er mit der Stirn gegen den Container. Mit einem Seufzer sackte er zu Boden, sein Hinterkopf knallte mit voller Wucht auf den Betonboden. Reglos blieb er liegen.

»Oh!«, entfuhr es Stephan. Zögernd ging er näher auf Kevin zu. »Kev?«, sagte er. »Alles in Ordnung?« Für einen Moment dachte er an einen weiteren Spaß, den Schupp sich erlaubte. In kindlicher Arglosigkeit wartete Stephan darauf, dass sein Kollege in Gelächter ausbrach.

Aus Kevins halboffenen Mund rutschte etwas Fleischiges, Blutiges, kaum größer als ein Daumennagel. Es dauerte eine Weile, bis Stephan begriff, dass es sich um die abgebissene Zungenspitze handelte.

Was geschieht denn hier nur?, dachte er voller Verzweiflung, die in seinen Eingeweiden wütete. Er kniete sich nieder und schlug Kevin sacht ins Gesicht, doch er entlockte ihm keine Reaktion, dann tastete er am linken Handgelenk nach seinem Puls. Er fand ihn nicht. Am dreckigen Boden breitete sich langsam eine Blutlache aus. 

»Das kann doch nicht sein«, hauchte Stephan. Er stand auf, bedeckte für einige Sekunden sein Gesicht mit beiden Händen, dann ging er erneut in die Hocke und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf Kevin. Dann brach es aus ihm heraus. »Das kann doch einfach nicht sein!«, schrie er. Er schlug mit einer Faust gegen den Container. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen.

Was sollte er nun tun? Die Polizei rufen? Das wäre seine Pflicht gewesen, doch eine warnende Stimme sagte ihm, dass er einen hohen Preis zu zahlen hätte für das Geschehene. Er hatte einen Menschen umgebracht, er war hier und heute zum Mörder geworden. Sein bisheriges Leben war keinen Pfifferling mehr wert. Er sah sich eine Gefängniszelle teilen mit bleichen und schmaläugigen Killern, die nur darauf warteten, dass er in den Schlaf dämmerte. Er konnte die Polizei nicht informieren.

Er zog fröstelnd die Schultern hoch. 

Dann hellte seine Miene sich auf. »Ein Feuer«, murmelte er. Er würde die Halle, die irgendwo im Niemandsland stand, einfach abbrennen.

Ächzend schleppte er Kevin zu den Puppen hinüber. In einem Nebenraum fand er ganze Bündel von Altpapier und auf Paletten gestapelte Stoffe, die so alt waren, dass sie fast zu Staub zerfielen, als Stephan sie hochhob. Er drapierte seine Fundstücke auf den Puppen, dann holte er sein Feuerzeug aus der Hosentasche und zündete das Papier an. Sofort schoss eine Flamme nach oben.

Stephan blickte auf den Leichnam und verzog das Gesicht. »Tut mir leid«, murmelte er leise, »das wollte ich nicht.« Seine Stimme klang belegt, doch Trauer empfand er nicht.

Langsamen Schrittes verließ er den großen Lagerraum und verschloss sorgfältig die Tür. Den Schlüssel zog er ab und schob ihn durch den breiten Spalt am Boden zurück.

Er zündete sich eine Zigarette an und blickte versonnen dem Rauch nach, der auffasernd zur hohen Decke strebte.

In seinem Kopf formierte sich bereits die Aussage, die er zu Protokoll geben würde. Es musste etwas Simples sein; nichts, wodurch er sich in Widersprüche verwickeln konnte. Übelkeit habe ihn geplagt, würde er sagen, und daher seine Arbeit früher beenden müssen. Kevin versicherte ihm, dass er alleine weitermachen würde. Kein Problem für ihn. Gute Besserung, habe sein tödlich verunglückter Kollege ihm noch hinterhergerufen.

Stephan ließ die Worte durch seinen Schädel gleiten, hin und wieder sprach er sie laut aus. Dazu machte er passende Gesten und Mienen, die Ratlosigkeit und Betroffenheit zur Schau stellten.

Er verschluckte sich am Zigarettenrauch, als er die Stimme hörte. Kevins Stimme, die benommen klang, aber erfüllt war von Angst und Schmerz. »Hilfe«, hörte er ihn rufen. »Holt mich hier raus!« Die Türklinke wurde gedrückt, immer und immer wieder.

»Hilfe!«, schrie Kevin. »Stephan, bitte hilf mir!«

Stephan wich zurück, er war plötzlich weiß im Gesicht wie ein Gespenst; Angst und Irrsinn leuchteten wie Feuer in seinen Augen. Der Schlüssel, wollte er rufen, er liegt auf deiner Seite. Doch er schwieg. Die Rufe wurden bald leiser, nur noch ein papageienhaftes Krächzen, untermalt von krampfartigem Husten.

Nach einer Weile hörte er nur noch das Prasseln des Feuers. Schwaden von schwarzem Rauch drangen durch die Spalten der versperrten Tür, er roch bitter und ätzend und legte sich wie ein schmieriger Schleim auf Stephans Lungen. Mit tränenden Augen verließ er das Gebäude, das auf der Rückseite von den Flammen hell erleuchtet war. Er stapfte über die schlammigen Felder und genoss das Gefühl des kalten Wassers, das in seine Schuhe drang.

Aus der Ferne drang das Geräusch von Sirenen an seine Ohren. Ihr Geheul erfüllte die Abendstille.

 

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