Von Ingo Pietsch

Der Schrottplatz lag etwas außerhalb der Stadt.

Kaum ein Fahrzeug fuhr hier vorbei, in der Ferne erscholl das Signalhorn einer Lokomotive und eine Kirchturmuhr schlug Mitternacht.

Das Gelände war nur spärlich ausgeleuchtet, da die Hälfte der Scheinwerfer defekt war.

Es gab dort am Eingang eine große Lagerhalle, in dem auch der Besitzer mit seinem Wachhund wohnen sollte.

Ben und Tom, Zwillinge, schlichen an dem gut drei Meter hohen Maschen- und Stacheldrahtzaun entlang, zu ein paar Birken, die den Zaun überwuchsen.

Es war nicht einfach, die glatten Stämme zu erklimmen, doch sie schafften es unbeschadet über den Stacheldraht und landeten auf einem Turm aus halb verrosteten Autotüren.

Tom stolperte, verklemmte seinen Fuß im brüchigen Kunststoff und schlitterte mit der Tür den ganzen Berg hinunter.

Vor Schreck brachte Tom keinen Laut heraus, bis die Tür sich verkantete, er bäuchlings hinfiel und  der Sturz ihm die Luft aus den Lungen trieb.

„Autsch!“, murmelte er.

„Alles OK?“, fragte sein Bruder so leise wie möglich.

Tom wollte etwas antworten, doch ein wütendes Knurren ließ ihn aufblicken.

Vor ihm stand ein Dobermann. Mindestens so groß wie ein Kalb. Glühend rote Augen starrten auf Tom hinab. Geifer tropfte aus den Lefzen des Höllenhundes und sein Kopf zuckte immer wieder vor und zurück, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er mit Tom spielen oder ihm die Kehle herausreißen wollte.

Ganz langsam, ohne den Hund aus den Augen zu lassen, setzte Tom sich hin und nestelte blind aus seinem Rucksack ein riesiges Stück saftiges Fleisch. Seine Klassenkameraden hatten sie vor dem Wachhund gewarnt. Schließlich hatte jeder schon diese Mutprobe hinter sich gebracht.

Tom hielt ihm das Fleisch hin. Es donnerte entfernt.

Der Dobermann nahm es als Signal, legte den Kopf schief und beschnüffelte neugierig den Leckerbissen.

Tom stand auf und warf das Fleisch weit von sich weg.

Der Hund verschwand im Dunkeln und die Jungs hörten, wie sich das Tier über sein Futter hermachte.

Ben hatte inzwischen seinen Bruder erreicht. „Alter, was war das denn für eine Aktion?“, meinte er anerkennend, wie sein Bruder die Situation gemeistert hatte. „Wir müssen uns einen anderen Weg hier heraus suchen.“ Er nickte Richtung des Türenstapels, der langsam mit quietschenden Geräuschen in sich zusammenfiel und der Zaun damit unüberwindbar geworden war. „Außerdem zieht ein Unwetter auf.“

Ein eisiger Wind bescherten den beiden eine Gänsehaut.

Die Lagerhalle war von hier aus nicht zu sehen, also wussten sie nicht, ob der Lärm die  Aufmerksamkeit des Besitzers erregt hatte.

„Der Hund ist beschäftigt, lass uns erst mal was Interessantes finden“, sagte Tom.

Sie gingen schnell im Schatten verschiedener Autoteiltürme Richtung Mitte des Schrottplatzes.

Immer wieder zuckten Blitze am Himmel, sodass sie sich gut orientieren konnte.

Schließlich erreichten sie eine in den Boden eingelassene Schrottpresse, um die sich Autowracks stapelten und sogar ein ausgeschlachteter Bus herum stand.

In der Presse stand eingekeilt ein alter Feuerwehrbulli.

„Siehst du auch, was ich sehe?“, wollte Tom wissen.

Wieder donnerte es.

Das Blaulicht auf dem Dach des Bullis war genau der Beweis für ihre Mutprobe.

„Komm, wir müssen uns beeilen, bevor der Hund oder der Wächter hier aufkreuzen.“

Die beiden blieben stehen. Im Halbdunkel, um die Presse, standen ein gutes Dutzend Personen.

„Hallo!“, sagte Ben. „Wir wollen nichts stehlen!“

Es gab weder eine Antwort, noch bewegten sich die Leute.

Es blitzte zwei Mal hintereinander und die Jungs erkannten, dass es sich um schlecht gekleidete Schaufensterpuppen handelte.

„Die sind echt gruselig!“, flüsterte Tom. „Warum stellt die hier jemand auf?“

Ben schüttelte den Kopf und stieg auf das Bullidach. „Vielleicht will der Besitzer ja Fremde von hier fern halten oder er ist nur einsam.“

Ben hatte eine kleine Brechstange dabei und machte sich gleich daran, das Blaulicht abzumontieren.

Tom gesellte sich dazu und zitierte theatralisch: „C3PO, stell sofort sämtliche Müllpressen auf der Inhaftierungsebene ab!“

Ben war fast fertig: „Hör auf mit dem Quatsch! Hilf mir lieber mit den Kabeln.“

„Warte, lass uns noch zum Beweis ein Selfie machen!“ Tom holte sein Handy und eine Zange aus seiner Jacke. Er machte ein Foto und gab das Gerät an seinen Bruder weiter, während er die Drähte durchtrennte und das Blaulicht in einer großen Umhängetasche verstaute.

„Und, ist das Foto was geworden?“

Ben schüttelte sich: „Ach du Schei…“ Er hatte die leuchtenden Augen des Dobermanns im Hintergrund auf Display gesehen.

Plötzlich wackelte der Bulli.

Die Jungen sahen sich panisch um.

Alle Schaufensterpuppen hatten sich in ihre Richtung gedreht und starrten sie an.

„Haben die sich gerade bewegt?“, stotterte Ben.

Tom sagte gar nichts.

Es blitzte und donnerte mehrmals.

Die Presse begann zu arbeiten. Die Seitenwände fuhren aufeinander zu und die Scheiben des Bullis zerplatzen als erstes.

„Runter!“, schrie Ben.

Beide sprangen vom Dach neben die Presse, gerade noch rechtzeitig, ehe der Bulli vollends zerquetscht wurde.

Das Bellen des Dobermanns näherte sich rasant, doch die Puppen machten glücklicherweise keinerlei Anstalten über sie herzufallen, hatten aber die Arme nach ihnen ausgestreckt.

„Zum Haupttor!“ Die Zwillinge rannten um ihr Leben.

Jetzt donnerte es so laut, dass der Boden erzitterte.

Ein Blick über die Schulter verriet den Zwillingen, dass der Höllenhund sie mit großen Sätzen verfolgte und bald eingeholt haben würde.

Der Dobermann rammte eine Anhäufung von Radzierblenden, die wie Wurfgeschosse in alle Richtungen davonflogen und die Jungs nur knapp verfehlten.

Der Regen setzte ein.

Als sie um eine Ecke bogen, stand dort ein Männchen mit Buckel und langem Mantel. Ben und Tom konnten im flackernden Licht eines Blitzes nicht ausmachen, ob es ein Gewehr oder nur einen Besen hielt.

„Ihr entkommt mir nicht“, krächzte es und lachte wirr. „Dante, du treulose Teufelsbrut wo bist du?“

Wieder blitzte und donnerte es, der Regen wurde stärker.

Ben und Tom wichen dem Mann aus und rannten immer weiter, ohne sich umzusehen.

Das Bellen kam immer näher, denn der Dobermann war wirklich schnell.

Schließlich erreichten sie das Schiebetor der Zufahrt.

Mit vereinten Kräften zogen sie es auseinander, bis eine Kette es blockierte.

Sie zwängten sich hindurch und schafften es, im allerletzten Moment, das Tor wieder zu schließen.

Der Dobermann versuchte, sich bellend und schnappend irgendwie unter dem Tor durchzuzwängen, aber der Betonboden verhinderte dies.

„Dante? Dante?“, hörten sie den Besitzer immer wieder rufen.

Ben und Tom standen einen kurzen Moment vor dem Tor, um sicher zu gehen, dass der Hund sie auch wirklich nicht verfolgte.

Als sie sich weiter vom Schrottplatz entfernten, vernahmen sie noch: „Dante komm her, die sind längst verschwunden. Dante?“

So schnell die Zwillinge konnten, fuhren sie im strömenden Regen auf ihren Fahrrädern nach Hause und taten in der restlichen Nacht kein Auge mehr zu, bei dem Gedanken, dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen zu sein.

 

Am nächsten Tag am Rande des Schulhofs.

„Und?“ , fragte Tobi, der Anführer der Clique. „Was habt ihr uns mitgebracht?“

Ben überreichte das Blaulicht.

„Nicht schlecht.“ Die anderen nickten ihnen bewundernd zu.

„Gut, dass ihr uns den Tipp mit dem Fleisch gegeben habt. Und der Wächter war auch nicht ohne!“, meinte Tom und zeigte ihnen das Selfie, mit dem Dobermann im Hintergrund.

Die Jungs waren erst einmal sprachlos, bis Tobi ihnen lobend auf Schultern schlug.

„Ihr seid echt witzig. Keine Ahnung, auf welchem Schrottplatz ihr gewesen wart – obwohl es hier nur den einen gibt. Aber wir würden euch niemals einer Gefahr aussetzen. So was machen wir nicht. Der Wachhund ist schon vor einer Ewigkeit gestorben und der Besitzer eigentlich seit einem halben Jahr im Altersheim. Aber der türmt wohl regelmäßig. Trotzdem: Willkommen im Club!“

 

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