Von Anne Zeisig

Haro stimmte die Saiten seiner Gitarre an und summte: „Dies Bildnis ist besonders schön.“
Machte eine Pause, wischte sich Tränen aus dem Gesicht und legte die Klampfe beiseite.
„Jeden Tag!“, jammerte er, „komme ich an ihr vorbei. Sie erinnert mich total an Jenny!“ Er sank auf dem durchgesessenen Studentensofa in sich zusammen und begrub seinen Kopf in den Händen.
Seit zwei Wochen litt Haro nun an Liebeskummer.
„Dann wechsle doch einfach die Straßenseite“, schlug sein Freund vor und haute ihm auf den Schenkel. „Mensch Alter! Das kann doch so schwer nicht sein! Dann kannst du unter die Beziehung auch endlich einen Schlussstrich ziehen.“
Haro stand abrupt auf und ging im Raum auf und ab. „Aber sie zieht mich magisch an!“
„Sie zieht mich magisch an!“, äffte der Freund ihn nach. „Es hat zwischen euch nicht geklappt! So einfach ist das!“
‘Haro steigert sich offenbar krankhaft in diese Jenny-Doppelgängerin hinein’, dachte der Freund und hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen.
„Ihre langen Wimpern flirren, wenn auch nur der geringste Lufthauch durch sie hindurch weht! Ihre roten feuchten Lippen öffnen sich leicht, als wenn sie mir sagen will, dass unsere Liebe nicht vorbei ist!“ Haro fuhr sich mit den Händen durch seinen Undercut.
Sein Freund nahm einen Schluck Bier aus der Flasche. „Du willst die Realität einfach nicht akzeptieren!“
„Aber Alter! Das ist doch ein Zeichen!“ Haro versank noch tiefer in die Couch. Die alten Sprungfedern quietschten. „Wenn ich wüsste, wer Jennys Neuer ist, den würde ich killen!“
Sein Mitbewohner rülpste.
Haro hielt die Lider gesenkt und blickte auf den abgewetzten Teppich, der ebenso mit Füßen getreten worden war, wie sein Herz.
„Wie gesagt, du musst einfach nur die Straßenseite wechseln. Und nach Jenny gibt es auch wieder eine andere für dich“, säuselte der Freund kleinlaut und erhob sich.
„Gehe doch bitte einmal zum Ku-Damm und schaue sie dir an“, flehte Haro, „damit du verstehst, was ich meine.“
„Was?“ Er wandte sich ab und schüttelte den Kopf. „Ich bin doch nicht hirnrissig und gucke mir ‘ne Schaufensterpuppe an!“
Haro krümmte sich vor Herzschmerz und sank zu Boden. „Bitte! Dann verstehst du mich auch!“, flehte er ihn an.
Echt peinlich abgefahren, wie der Freund vor ihm kniete. Kein Wunder, dass Jenny einen wahren Kerl brauchte.
* * *
Lange, sehr lange stand er dann doch noch um Mitternacht vor dem Schaufenster.
Und besah sich die Ausstellungspuppe. Ihr zarter langer Hals war mit Perlen behängt und unter dem Kunstnerz trug sie unschuldig elfenbeinfarbig ihre kleinen knackigen Brüste, die so eben nur hervorlugten und der Phantasie Nahrung gaben. Und dazu diese paillettenbesetzten Netzstrümpfe an den langen schlanken Beinen … wenn seine Hand an ihnen hinaufgleiten würde …
„Es ist nur eine Modepuppe!“, rief er und tippelte wegen der Kälte von einem Bein auf das andere. Sein warmer Atem beschlug die Schaufensterscheibe. „Das ist nicht Jenny!“
Zwinkerte sie ihm etwa zu?
Er erstarrte.
Sah er, wie sich über ihr Dekolleteè eine leichte Röte der Erregung ausbreitete, als der Kunstnerz lautlos zu Boden glitt?
„Wow“, flüsterte er, „sie sieht ihr verdammt ähnlich.“
Er blickte auf die Uhr, weil die wahre Jenny längst auf ihn wartete.

ENDfassung