Von Miklos Muhi

»Herr, bitte erhöre mich und hilf mir in dieser Welt voller Sünden zurechtzukommen. Beschütze mich vom Bösen, der hinter mir her ist, beschütze mich von den Anfeindungen der Menschen und hilf mir, die sie zurück zum wahren Glauben zurückzubringen.«

 

Jörg betete wie jeden Abend in den letzten Wochen. So flüchtete er für kurze Zeit aus einer Welt, in der nichts mehr heilig war. Die Kirche war selbst an hohen Feiertagen nur halb voll, Beichte, Kommunion und die Haussegnung waren aus der Mode gekommen und kaum ein junges Paar tauchte auf, um vor Gott den Bund fürs Leben zu schließen. Bestenfalls gingen sie zum Standesamt, wenn überhaupt. Opferstock und Kasse wurden immer leerer und alles teurer.

 

»Belohne die Freigebigen und zeige den Geizigen den Weg ins Paradies. Bringe Licht in die Dunkelheit der Welt, erleuchte die Rechtschaffene und zeige den Kindern den Weg zum Glauben.«

 

Ein leises Knacken flog durch die kalte Kirche. Jörg öffnete seine Augen und sah sich um. In den Ecken sammelte sich die substanzlose Schwärze und verdeckte einige Stationen des Kreuzweges. Der Altar versank im Schatten der nahenden Nacht. Leuchten oder Heizen kam nur während der Messen infrage. Die Kerzen, die er brennen ließ, waren zwar geweiht, aber sie konnten die materielle Welt nicht erleuchten.

 

»Heiliger Sebastian bete für mich, Heiliger Josef bete für mich, Heiliger Franziskus bete für mich.«

 

Das ungute Gefühl, das er immer unter Kontrolle hatte, wurde stärker und war dabei, aus seinem Gefängnis auszubrechen. Die Blicke der Heiligenstatuen aus Stein spendeten heute keinen Trost. Er schloss wieder die Augen und setzte sein Gebet etwas lauter vor.

 

»Lass die Kindlein wieder zu mir kommen, damit ich sie in Deinem Namen schützen und im wahren Glauben stärken kann. Bringe die bösen Zungen der Lügner zum Schweigen, die das Ansehen Deiner Kirche schädigen. Lass nicht zu, dass diese Sünder sich an Deinen treuen Dienern vergreifen.«

 

Die Erwachsenen konnte er getrost abschreiben. Sie hatten keine Ehrfurcht mehr vor ihm. Kaum einer grüßte ihn und viele überquerten lieber die Straße, als ihn zu treffen. Nur die Kindergruppe, die er jeden Sonntag vor der Messe unterrichtete, gab ihm das Gefühl, nicht fehl am Platz zu sein. Nur bei ihnen machte die Soutane noch Eindruck.

 

»Lass das Gemeinschaftsgefühl in unserer Gemeinde aufleben, damit wir uns gegenseitig und stark im Glauben beschützen mögen. Bring uns wieder Frieden, segne uns mit dem Mut der ersten Christen, die bereit waren, alles zu erdulden und lieferten das Ihresgleichen nie aus.«

 

Im Sommer machte er mit ihnen einen Ausflug in die nahe gelegenen Berge. Er kam selbst während des Ausfluges seinen seelsorgerischen Pflichten nach und kümmerte sich intensiv um jedes Kind. Er hörte ihnen aufmerksam zu und nahm sie in den Arm, während sie von ihren Problemen erzählten. Die Kinder liebten ihn und er liebte sie, als wären es seine Kinder.

 

»Gib mir Kraft und Gelegenheit, weiter zu dienen, bis zur Stunde meines Todes.«

 

Es quietschte und Jörg machte die Augen wieder auf. Ihm kam so vor, als würde das Quietschen anderes Geräusch, das wie Schritte klang, verdecken. Die Dunkelheit verdichtete sich und mancher Heilige verschwand in der herein sickernden Nacht. Die Gesichter, die er noch sehen konnte, kamen ihm befremdlich vor.

 

»Verlasse den treuen Diener nicht, sondern begleite ihn durch alle Widrigkeiten des Lebens in dieser ungläubigen, verdorbenen Welt.«

 

Das große Kruzifix über dem Altar war noch sichtbar. Es sah so aus, als wäre das Leiden aus dem Gesicht des Gekreuzigten gewichen. Jörg schob es auf den Mangel an Licht.

 

»Beschütze die Heilige Mutter Kirch und ihre Diener, damit sie am letzten Tag ihren gerechten Lohn erhalten …«

 

Der Dielenboden knackte hinter ihm. Er betete jedoch weiter, mit jedem Wort lauter und inniger.

 

»… und unter den Heiligen ihren Platz einnehmen können … «

»Es reicht. Hören Sie damit auf«, sagte eine unbekannte Stimme hinter ihm.

Jörg verstummte, bekreuzigte sich, öffnete die Augen, stand auf und drehte sich um. Vor ihm stand ein Mann in Schwarz gekleidet.

»Widerstand oder Flucht sind zwecklos«, sagte er.

»Ich habe keine Angst«, antwortete Jörg.

»Sind Sie Jörg Meute?«

»Ja. Was wollen Sie von mir?«

»Mein Name ist Nelson, bin Ermittler der hiesigen Kripo«. Er zuckte einen Dienstausweis und hielt ihn vor Jörgs Nase. »Herr Meute, ich nehme Sie fest wegen Verdachts von sexuellem Missbrauch von Minderjährigen in vier Fällen. Umdrehen und Hände auf den Rücken, aber ein bisschen plötzlich!«

 

Während die Handschellen klicken, hob Jörg seinen Blick. Das hämisch wirkende Lächeln des Gekreuzigten versetzte ihm einen Stich ins Herz.

»Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«, frage Jörg leise.

»Los, gehen wir!«, sagte der Mann und führte Jörg ab.

 

Der Erlöser schien mit einer Mischung aus Abscheu und Triumph auf ihn herabzublicken.

 

Version 3