Von Raina Bodyk

Das fein gezeichnete Gesicht mit den großen, blau strahlenden Augen, der schmalen Nase und dem Hauch von Kindlichkeit starrt neugierig und ein wenig erschreckt aus dem riesigen Fenster. Die junge Dame ist sehr modisch gekleidet:  hautenge, ripped Jeans und ein weißes T-Shirt, bedruckt mit roten Herzchen.

Sie beobachtet verwirrt die Vorgänge auf dem Platz vor ihr, das Durcheinanderrennen, das Geschrei, die Verwüstung. Leute schieben sich voll Angst durch die Menge, stolpern übereinander, stürzen zu Boden.

Es sieht so urkomisch aus, sie muss einfach laut kichern. Wild wedelnde Arme, in die Luft gestreckte Beine, fliegende Hüte und Mützen. Weiter hinten versuchen Leute aufzustehen, rutschen aus und schlagen wieder lang hin. Die junge Frau schüttelt sich hinter ihrem sicheren Glas inzwischen vor Lachen. So was Vergnügliches hat sie noch nie beobachtet. Zuhause herrscht immer langweilige Ruhe und Ordnung.

*


Mona trinkt einen vorsichtigen Schluck aus ihrer dampfenden Kaffeetasse. Ohne Koffein ist sie morgens kein Mensch. Interessiert liest sie die Neuigkeiten im Kölner Stadtanzeiger:

„Ein in unseren Breiten ungewöhnliches Wetterphänomen erschreckte am Donnerstagabend die Menschen in der Kölner Innenstadt. Ein verheerender Windstoß fegte über den Neumarkt und stieß zahlreiche Kioske um, entwurzelte Bäume. Mehrere Personen wurden zum Teil schwer verletzt, als sie von herumfliegenden Metallteilen getroffen wurden. In der herrschenden Panik spielten sich tumultartige Szenen ab. Erst die eintreffenden Polizeibeamten konnten Ruhe in das Tohuwabohu bringen.
Verstärkt wurde das Chaos während dieses Wirbelsturms durch ein seltsames, metallisch kreischendes Geräusch.
Meteorologen stehen vor einem Rätsel.“ 

 

Die rothaarige Zwanzigjährige mit den vorwitzigen Sommersprossen auf der Nase ist nachträglich froh, gestern einen freien Tag gehabt zu haben.

Ein Blick auf die Uhr sagt ihr, dass Eile geboten ist. Ihr Chef hasst Verspätungen seiner Angestellten. Hoffentlich fallen die Bahnen nicht aus. Sie schnappt sich Jacke und Tasche, nimmt einen letzten, hastigen Schluck und saust die Treppe runter zur Haltestelle.

An der Unglücksstelle, wo Mona umsteigen muss, schaut sie sich neugierig um. Die Trümmer der zerstörten Büdchen sind noch überall verteilt. Die umgeknickten Linden belegen, was für eine mächtige, entfesselte Kraft hier gewütet hat.

 

„Hallo?!“

Sie zuckt bei dem halbfragenden, lauten Ruf erschreckt zusammen und schaut sich um. Von den Umstehenden scheint niemand etwas zu ihr gesagt zu haben. Na ja, vielleicht hat sie sich das nur eingebildet.

„Hallo?!“

Schon wieder! Da sucht wohl jemand Aufmerksamkeit, aber sicher nicht von ihr. Ihre Bahn kommt, sie steigt ein und hat den kleinen Vorfall schon vergessen.

*

„Ist diese Frau taub und blind?! Hört mich rufen, guckt sich um und geht einfach weiter, als wäre ich nicht vorhanden. Idiotin!“ 

Immerhin, es ist ganz unterhaltsam, sich das Geschehen draußen anzuschauen. Das heimische, zentrale Datenportal KIX-M03 hat sie nur unzureichend auf die bunte Vielfalt dieser fremden Welt vorbereitet. Nur gut, dass sie sich heimlich einem kompletten (nicht völlig kompletten, wie sie jetzt merkt) Datentransfer unterzogen hat. Okay, die Schmerzen danach – wegen der immensen, übertragenen Menge – hatten sie zwei Tage heftig gequält. Aber das war es ihr wert. Sie wollte gut vorbereitet sein, bevor sie ihre heimliche Abenteuerfahrt zu anderen Planeten und Galaxien begann. Hoffentlich schicken sie ihr nicht jemanden hinterher, um sie notfalls mit Gewalt zur Rückkehr zu bewegen.

Nach zwei Tagen hat das Hinausschauen seine Anziehungskraft verloren. 

Sie stöhnt: „Nein, nicht schon wieder! Was denken sich die Leute? Dauernd bleiben Paare direkt vor meinem Fenster stehen und pressen ihre Lippen aufeinander. Langweilig und unhygienisch!“
Viele der Vorübergehenden stecken sich kleine, brennende Stäbchen in den Mund. Ist das eine Mutprobe, wer sich als letzter die Lippen verbrennt? Solche kindischen Spiele haben wir, den Sternen sei Dank, schon vor vielen Jahrhunderten verboten.

Kopfschüttelnd schaut sie auf die zahllosen, bunten Blechkisten, die sich mal schneller, mal langsamer auf dicken Gummirollen an ihrem Fenster vorbeischieben. Meistens scheinen sie allerdings zu stehen. Die langen Behälter sind wahrscheinlich die Sammeltransporter. Wie antiquiert! Von Teleportation hat man hier ganz offensichtlich noch nie gehört.

*

Leider ist das gemütliche Wochenende viel zu schnell vorbei und Mona wieder auf ihrem Weg ins Büro. Plötzlich ertönt erneut dieses halb fragende „Hallo?!“ 

Das kennt sie doch? Ja! Das war doch am Tag nach dem Tornado. Ihr Blick wandert umher, niemand zeigt sich an ihr interessiert. Seltsam!

„Hallo!!“ – „Sie sieht einfach nicht her! Bist du blind?!“

Mona blickt Richtung Kaufhaus, von wo der Ruf her zu wehen scheint.

„Wie dumm bist du eigentlich? Ich bin hier! Am Fenster! Mach die Augen auf, ich winke.“

Jetzt endlich sieht sie die Ruferin. Eine junge Dekorateurin steht dort im Schaufenster und macht ihr Zeichen mit ihrer Hand. Automatisch kommt Mona näher und winkt zurück. Plötzlich stockt sie: Das ist gar keine Raumgestalterin, das ist die Schaufensterpuppe, die seit einer Woche die Auslage schmückt! Ihr Outfit hat sie schon mehrfach bewundert. Aber das kann doch gar nicht sein! Sie muss sich das alles einbilden. Die Puppe steht jetzt stocksteif da und rührt sich nicht. Logisch! Plastikfiguren reden nicht!  

Da! Die Figur hat wieder genickt! Mona nimmt ihr Herz in beide Hände und fragt zögernd, obwohl sie sich dabei unendlich albern und dumm fühlt: 

„Was willst du von mir?“

„Ich verstehe deine Sprache nicht. Wir können nur durch die Kraft unserer Gedanken miteinander kommunizieren. Die Gedanken brauchen keine Sprache.“

 

Gespenstisch und mit leisem Grauen schleicht sich die Erkenntnis in Monas Verstand, dass die fremde Stimme nur in ihrem Kopf ertönt und sie sie als einzige hört. Geschockt weicht sie einen Schritt zurück. Daher gehen alle Passanten achtlos vorüber. Was passiert hier? Ist sie dabei, verrückt zu werden? Sie spricht mit einer Schaufensterpuppe! Ist sie krank, hat sie Halluzinationen?

„Beruhig dich endlich, du bist nicht verrückt. Ich komme sozusagen von oben. Kleiner Unfall.“  

Mona stöhnt unüberhörbar auf. Die Umstehenden werfen neugierige Blicke rüber. Schamrot geworden, starrt die Rothaarige zu Boden. Das alles ist so verwirrend und peinlich. 

„Musste das sein? Wir dürfen keine Aufmerksamkeit erregen.“

„Keine Aufmerksamkeit?! Du bist eine Puppe, siehst aus wie eine Puppe und sprichst! In meinem Kopf! WAS ist das?“

„Ich bin in dieser komischen Gestalt gefangen. Hör mir zu. Bitte! Ich heiße Mendaxa und komme aus einer Nachbargalaxie. Ich war unterwegs zu unserem Partnerstern K678-Vb. In meinem Transporter muss unterwegs etwas beschädigt worden sein. Jedenfalls bin ich abgestürzt und in diesem Ding gelandet.“                      

„Ich bin übergeschnappt! Zuviel gearbeitet. Burnout! Ich muss zum Arzt“, brüllt Mona panisch los.

„Reiß dich zusammen! Und sei endlich still und benutze deine Gedanken! Ich tu dir schon nichts. Ich bin in dieser blöden Figur eingeschlossen, das siehst du doch.“

„Bist du wirklich von einem anderen Stern?“, formuliert Mona, um Ruhe bemüht, ihre Gedanken.

„Ich bin zigtausend Lichtjahre durchs Universum gesaust und lande ausgerechnet bei euch Urzeitgeschöpfen!“

„Dann warst du ja endlos lange unterwegs.“

„Sag ich ja, Urzeitgeschöpfe seid ihr! Noch nie was von der Zeitrelativität gehört?! Ah, ich seh‘s schon an deinem dummen Gesicht. Hast du nicht. Für unterentwickelte Lebewesen wie dich: Zeit geht mal langsam, mal schnell vorwärts oder rückwärts. Auf unserem Stern haben wir gelernt, auf diesen ‚Schienen‘, wenn du so willst, turboschnell durchs All zu reisen.“

„Wahnsinn! Und jetzt?“

„Oh, ganz einfach, ich benötige deine Hilfe.“

„Von einer so unterentwickelten Kreatur?!“

„Ja, verdammt, das ist mir auch unendlich peinlich, das kannst du mir glauben. Aber was soll ich machen? Ich muss hier raus, brauche einen Körper. Deinen Körper.“

„Wie bitte? Das kannst du dir so was von abschminken. Soll ich womöglich noch für dich ins Schaufenster? Vergiss es.“

„Bitte, bitte, bitte! Es ist total leicht. Du sollst mir deinen Körper nur ganz kurz ausleihen, damit ich aus der Puppe rauskomme. Danach bist du mich sofort los.“

„Und ich verrotte hier hinter der Scheibe? Niemals!“

„Ich schwöre dir, es ist nur für einen kurzen Moment. Dann kann ich meine eigene Gestalt wieder annehmen und du kriegst deine wieder.“

„Such dir doch einen anderen dafür.“

„Das ist leider das Problem. Nur jemand, bei dessen Geburt wie bei meiner ein Halo am Himmel geleuchtet hat, kann mich hören.“

„Davon hat mir mein Vater erzählt. Als ich geboren wurde, strahlte ein Regenbogen auf unser Haus herunter, der auf dem Kopf stand. Papa meinte, wer unter einem so außergewöhnlichen Zeichen auf die Welt kommt, ist besonders. Na ja, davon habe ich allerdings bis jetzt nichts bemerkt.“

„Siehst du! Jetzt ist deine einzigartige, bedeutende Zeit gekommen. Es ist dir sozusagen in die Wiege gelegt, als Erste einem Wesen aus dem All zu helfen.“

„Na schön! Aber vergiss dein Versprechen nicht – nur ganz kurz!“

„Okay! Aufgepasst! Ich werde mich jetzt tief konzentrieren, du schaust mir fest in die Augen und dann tauschen wir unsere Körper. Achtung …“

 

Ein Rauschen in der Luft und den Ohren, ein Ziehen am ganzen Leib, ein Ruck.

Dann ist es vorbei. 

Mona blickt durch die dicke Glasscheibe nach draußen auf das pulsierende Leben. Steif und unbeweglich für jeden, der sie in dem Schauraum angafft.

Da! Vor dem Fenster sieht sie sich selbst stehen. Unendliches Entsetzen breitet sich in ihr aus. Es ist also tatsächlich passiert! Mendaxa hat ihren Platz eingenommen. 

Niemand sieht, wie die Schaufensterpuppe voll Grauen an das Fenster trommelt.

„Hol mich hier raus! Lauf nicht weg!“

Das Mädchen, dass sich bereits umgedreht hat, um die Reste ihres Transporters zu suchen, dreht sich noch einmal kurz um.

„Tut mir leid, aber das geht nicht.“

„Du hast es geschworen!“

„Ja … Sonst hättest du doch nicht eingewilligt.“

„Du hast mich reingelegt?! Wie komme ich denn hier wieder raus?“

„Ich sag’s ja nur ungern. Aber du musst warten, bis nochmal jemand vorbei spaziert, der unter einem Halo geboren ist und dich hören kann.

*

„Hallo …?!“

 

V3