Von Maria Lehner

Während der Mann am Layout herumprobiert und versucht, das Bild neben dem Textblock gut zu positionieren, sagt er: „Schaut: Mosser-Frauen aus drei aufeinander folgenden Generationen. Seniorchefin Katharina, Jahrgang 1956; die hochnäsige Mariann, ich glaub, die ist 1977 geboren; und Laura, das Milleniumsbaby. Aber da rechts: Ein Hund? Boah, ist der hässlich!“. Die Kollegen schauen und nicken. Im Büro der Bezirkszeitung ist die Rede von der Unternehmerdynastie „Mosser-Couture“. Dazu gibt es knapp 140 Zeichen Text: „Laura Mosser, Spross des Traditionsunternehmens, nach glimpflich verlaufenem Unfall auf dem Weg der Besserung. Wir wünschen gute Genesung!“. Keine Werbeeinschaltung, und doch Werbung, typisch für die Mossers!

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Im idyllischen „Nussdorf“ am Stadtrand von Wien weiß man: Knapp vor der Jahrtausendwende wurde die Schwangerschaft der Mariann Mosser wie die einer Prinzessin hochstilisiert: Mariann dies, Mariann das. Ihr ist das zu viel; sie hört auf zu essen – als täte sie es aus Bosheit und könnte damit der werdenden Nonna („Und wehe jemand sagt Großmutter!“) die Freude am Enkelkind nehmen. Mariann hungert, sie kollabiert: „Marianns Zustände!“. „Marianns Zerbrechlichkeit!“. Sie fastet stur weiter. Schließlich eine Frühgeburt: das Milleniumsbaby!

In Nussdorf heißt es: „Der Kindesvater? Unwichtig. Es geht nur um den Weiterbestand des Familienunternehmens, das war schon bei Katharina so – ihr Ehemann war bloß Staffage, die man in den Siebziger-Jahren in unserer verzopften Gegend noch gebraucht hat“.

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Aber das weiß nur Mariann: Als sie im Zimmer mit den bläulich schimmernden Brutkästen das Baby anschaut, denkt sie: „Was hat es mit mir zu tun?“. „Bindung ist jetzt wichtig“, meint die Gesundheitspsychologin und legt Mariann das Kind in den Arm (sie sind in der Klinik auf Frühgeborenen-Medizin spezialisiert). Mariann, Baby Laura, dazwischen eine Glasscheibe (auch jetzt noch fühlt sich das nach „Glasscheibe“ an, während sie den Winzling im Arm hält).  Da ist Scheu vor der Zerbrechlichkeit. Drei Wochen später fragt sie sich trotz psychologischer Begleitung, warum sich die vielzitierte Mutterliebe nicht einstellt.

Damit wächst Laura so heran, wie Mariann es schon von sich kennt: Zwischen der Welt und dem Kind dieses Panzerglas. Der unbeeindruckte Mutterblick. Weder freundlich noch unfreundlich. Das „Was-soll-ich-mit-dir?“-Gesicht. Das „Wie-kann-denn-ich-dich-liebhaben-ich-weiß-doch-selbst-nicht-was-Liebhaben-ist?“-Gesicht.

Lauras Lächeln, zuerst ein Reflexlächeln, irritiert Mariann. Das lässt die unsichtbare Glasscheibe wachsen. Bevor das kommt, was Fachleute das „spezifische Lächeln“ nennen, ist die Scheibe beinahe blickdicht. Lauras Weltsicht hat sich auf „Hinter Glas“ eingestellt. Gelächelt wird nicht mehr. Weder auf der einen noch auf der anderen Seite. Ein Schaufensterleben beginnt.

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„Ach, wie reizend!“, sagen die Nussdorfer über die Kleine. Sobald sie gehen kann, schaut sie den Schaufensterpuppen in die starren Gesichter und legt ihre Kinderhand auf das Mosser-Schaufenster. Das finden die Beobachter allerliebst. Was sie nicht wissen: Laura glaubt, dass die Puppen mit ihr verwandt sind.

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Im Privatkindergarten heißt sie: „Die hübsche Laura“. Sie modelt schon als Kleinkind bei „Mosser-Couture“. Sie arrangiert sich, sie hinterlässt keine Spuren. Man könnte meinen, sie sei gar nicht vorhanden, gäbe es nicht ein paar Fotos aus der Zeit im „Lycée Français“, auf denen sie posiert. Perfekt. Immer freundlich. Nie eine Grimasse, nie ein entgleister Gesichtsausdruck.  Sie hört jemanden Außenstehenden sagen: „Ah, wer ist denn die Schaufensterpuppe da auf dem Foto?“. Und steht daneben, als wäre sie unsichtbar.

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Das Folgende wissen Laura und die Therapeutin – aber die, und das ist schlimm, nimmt leider die Verschwiegenheitspflicht nicht ganz ernst. Als Laura nach einiger Zeit immer dünner wird, schickt man sie zu Einzelsitzungen bei einer Kunsttherapeutin. Dort malt sie eckig aussehende Menschen in sehr zarten Farben, durchscheinend. Aus der Zeit existiert dieses eine Gesprächsprotokoll; das „K“ steht für Laura, hier als Klientin bezeichnet; das „T“ für die Therapeutin:

K: … weil ich, täglich wie in einem Schaufenster sitzend, so ein unbewegliches Pflicht-Gesicht bekommen habe. Ich glaube, dahinter ist kein wirkliches Gesicht mehr.

T: Welches Gefühl bereitet dir der Gedanke, dieses Schaufenster zu zerschlagen?

K: Das ist Panzerglas. Undurchdringlich.

T: Und wenn es eine Sollbruchstelle hätte, die nur du kennst?

K: Ich habe Angst, die Scherben könnten mich verletzen. Im Gesicht beispielsweise. Dann könnte ich meiner Lieblingsbeschäftigung nicht mehr nachgehen.

T: Was ist deine Lieblingsbeschäftigung?

K: Das Darstellen.

T: Das Darstellen von…?

K: Vom Pflicht-Gesicht.

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Und dann gibt es noch das „Firmengeheimnis“: ihren Ferienjob als Schaufensterfrau. Die Idee stammt eigentlich von der Nonna, die gesagt hatte: „Das wäre eine Attraktion: Unter all den Schaufensterpuppen eine lebendige junge Frau. Zumindest für ein paar Stunden des Tages. Stillstehen, sonst nichts. Oder fast nichts, denn ab und zu ein kleiner, kaum wahrnehmbarer Lidschlag. Da passiert was mit den Leuten und sie wissen nicht, warum“. Nonna weiß über solche Dinge Bescheid und kann, was Menschen verführbar macht, wirksam einsetzen.

 

Wann immer sie will, kann Laura durch leichten Druck mit dem rechten Zeh einen Mechanismus in Gang setzen, der sie – wie auf einer drehbaren Bühne – aus dem Schaufenster diskret in einen Innenraum bugsiert. Zum Auffrischen, Umziehen, Essen, Trinken, Toilettenbesuch. „Und zum Gesicht-Entspannen“ meint Nonna. Aber das braucht und kann Laura nicht.

 

Sie wird geschminkt und sieht den ausdruckslosen Puppen jetzt noch ähnlicher. Sie beherrscht ihre Aufgabe so gut, dass niemand von den Vorbeigehenden sie als lebendigen Menschen wahrnimmt. Der Dekorateur findet: „Sie ist weitaus besser anzufassen als die Puppen, sie biegt sich mit, fühlt sich warm an“. Lauras „subliminal wahrzunehmende“ Bewegungen – so sagt die Nonna dazu – machen, dass die Menschen vor dem Schaufenster diesen Sekundenbruchteil länger hinschauen. Jenen Augenblick, in dem sich das Bild von dem bestimmten Kleid – alle paar Tage ein anderes Kleid – einbrennt in ihre Wunschwelt. Alles ist jetzt perfekt, denn Laura macht das, was sie am besten kann, aber…

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Vom „Unfallhergang“ wissen die Nussdorfer nur einen Bruchteil. Das gilt auch für Mama und Nonna. Und Laura behält für sich, wie es dazu kam: Ein Hund geht jeden Tag mit seinem Herrchen vorbei. Laura zwinkert ihm zu. Mit dem bewussten Lidschlag unter der Wahrnehmungsgrenze. Zum Spaß eigentlich. Obwohl – sie kann sich nicht erinnern, jemals etwas zum Spaß gemacht zu haben. Nun ja, es ist bloß ein Hund.

Laura hat Herzklopfen. Ein völlig neues Gefühl. Wie sie wartet auf die Zeit, zu der der Hund kommt! Wie sie etwas Wärmendes spürt und sich fragt: „Ist das das Glück, von dem alle reden?“ Der Hund wedelt mit dem Schwanz. Er stupst mit der Nase die Scheibe an. Laura denkt etwas, das sie oft ihre Freundinnen hat sagen hören: „Awww, süß!“ Jemand sagt zu seinen Begleitern: „Schaut, das sieht jetzt aus, als würde die Puppe lächeln“. Sie halten es dennoch für Einbildung.

Der Hund will nicht weiter. Er wird weggezogen, wehrt sich und wickelt dem Herrchen die Leine um die Beine. Der Hundehalter stolpert. Er schlägt mit einer zusammengerollten Zeitung heftig auf den Hund ein. Laura fühlt „etwas“ und das bringt sie aus dem Gleichgewicht. Sie stürzt. Ein paar Puppen stürzen. Laura fällt gegen die Scheibe.

Und dann wieder, was man sich erzählt: Die Passanten erschrecken, einer sagt „Die Puppe lebt ja!“. Eine Platzwunde muss genäht werden. Laura muss zur Beobachtung ins Krankenhaus.  Der Hund rennt dem Krankenwagen nach.

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Der Rest kann, da es ins nächstgelegene Krankenhaus geht, rekonstruiert werden: Laura wird im Krankenhaus von ihrer Mutter Mariann und der Nonna besucht. Sie sitzen rechts von ihrem Bett im Einzelzimmer. Die beiden Frauen, mit denen sie nichts verbindet, reden um die Wette, gestikulieren und – greifen nach Laura!

 

Laura läutet nach dem Krankenpfleger. Er kommt, sie winkt ihn auf ihre linke Seite und deutet ihm an, sich zu ihr zu beugen. Er tut es und sie flüstert ihm hinter vorgehaltener Hand etwas ins Ohr. Die beiden Frauen werden gebeten, kurz das Zimmer zu verlassen.

Sie wundern sich nicht. Immerhin sind da drei Frauengenerationen, die jegliches Körperliche in ihrer Konversation ausgespart hatten. Wahrscheinlich eine intime Sache, die Bettpfanne? Mariann und Nonna Katharina verlassen das Zimmer und gehen in die Cafeteria. Als sie zurückkommen, tritt gerade der Krankenpfleger mit einem anderen Mann aus der Tür und macht eine einladende Handbewegung: „Bitteschön!“

 

Laura liegt hinter einer dicken Glasscheibe, die auf Rollen gelagert ist und wie ein Paravent zwischen dem Bett und den Besucherstühlen positioniert wurde. Das also war es, was sie verlangt hatte?! Verdutzt nehmen die beiden Frauen ihre Plätze ein, nun durch die Scheibe von Katharina getrennt. Die Nonna und Mariann sprechen miteinander, distanziert aber einander zugewandt; und sie sprechen zu Laura – erste „echte“ Sätze. Sie legen ihre Hände an die Scheibe, als wollten sie Laura auf diese Weise streicheln. Laura schaut sie starr-freundlich durch die Glasscheibe an. Nach einer Weile gehen Mama Katharina und Nonna Mariann weg. Jede für sich, aber jeweils mit einem ehrlichen Lächeln für die andere.

Laura hört Hundegebell. Sie steht vorsichtig auf, zieht einen Mantel über und schleicht hinaus in den Krankenhausgarten. Mit einem Lächeln auf den Lippen. Ein kleines Lächeln nur, ein paar Schritte nur: ein Anfang. Es wird ein sehr langer Weg. Laura und der Hund gehen ihn nebeneinander.

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„Und nun haben die diesen Straßenköter. Ein eleganter Pharaonenhund, ja, das würde zu ihnen passen! Aber der?“, sagt der Redakteur und mutmaßt: „Hat da jemand am Ende doch Gefühle? Oder sind die Mossers auf den Hund gekommen?“. Er grinst über seine originelle Bemerkung und speichert die Seite ab: „Passt!“

 

Version 3