Von Rüdiger Marmulla

„Ich lege jetzt ein grünes Schlitztuch über ihren Kopf.“ Unmittelbar darauf schaltet die Ärztin die OP-Leuchte ein. „Haben Sie einen Filmriss?“

Ich kann mich noch bis zum letzten Moment erinnern, als Christa die Flasche Alte Williams Christbirne hochhielt, um mir dann noch einmal einzuschenken. Eigentlich vertrage ich ja keinen Alkohol. Aber wer könnte schon nein sagen, wenn die künftige Schwiegermutter zum Umtrunk einlädt? Was ich noch weiß, ist, dass mir kurz darauf der Tisch ins Gesicht schlug. „Bis zum Einschlag des Tisches weiß ich noch alles.“

„Jetzt gibt es einen Pieks.“ Die Ärztin ist bei der Arbeit. „Einen kleinen Moment, dann ist alles betäubt. Es könnte eine Narbe geben. Die Ränder der Wunde sind stark gequetscht und ausgefranst.“

„Eine Männernarbe? Cool.“ Der Stolz in meiner Stimme ist nicht zu überhören.

„Wenn Sie gerne einen Schmiss haben wollen, dann kann ich ihnen auch ein Rosshaar einnähen. Dann heilt es noch schlechter, Sie bekommen eine schöne Narbe und erlangen allerorts die Eintrittskarte in die höhere Gesellschaft.“

Das gefällt mir. „Ein Rosshaar einnähen? Nicht übel. Kann man das noch irgendwie toppen?“

„In den schlagenden Verbindungen war es das Höchste, wenn durch eine Schnittwunde der Ausführungsgang der Ohrspeicheldrüse verletzt wurde und danach der Speichel an der Wange außen herunterlief. Besonders beim Essen wurde das immer sehr … appetitlich.“

„Nein. So weit würde ich dann doch nicht gehen wollen. Aber eine Narbe über der rechten Augenbraue. Das stelle ich mir schon ziemlich lässig vor. Dann vergessen wir nie diesen Tag. Wir haben heute nämlich Mariettas Eltern in unsere Pläne eingeweiht.“

Alles geht sehr schnell. Die Ärztin ist flott bei der Arbeit. „Ich habe fünf Nähte gesetzt. Die entfernen wir in einer Woche. Jetzt klebe ich noch Steristrips auf. Sind Sie gegen Tetanus geimpft?“

„Ja. Bin ich.“

„Gut. Dann geht es nach dem Röntgen auf Station C5. Der Pfleger begleitet Sie.“ Mir wird das Schlitztuch wieder vom Gesicht genommen. Wir gehen ein paar Schritte.

Eine Röntgenassistentin führt mich in einen halbdunklen Raum und zieht mir die Röntgenschürze an. „Legen Sie den Kopf leicht in den Nacken. Ja. So. Und halten Sie nun bei geöffnetem Mund Nase und Kinn an den Röntgensensor. Sie müssen stillhalten. Haben Sie mich verstanden?“

„Ja.“

Sie lässt mich allein im Raum zurück. Der Röntgensensor rutscht weg. Das Zimmer rutscht weg. Der Boden rutscht weg. Ich bin der Einzige, der hier stillhält. Die Tür öffnet sich wieder.

„Sie halten eben nicht still. Ich hole jetzt den diensthabenden Radiologen. So kann ich nicht arbeiten.“

Ich fühle mich immer noch phantastisch.

Kurz darauf. Eine Männerstimme. „Sie müssen ganz stillhalten, sonst wird das mit der Röntgenaufnahme nichts.“

„Ich bin ja still. Aber das ganze Zimmer ist in Unruhe. Schauen Sie mal. Selbst die Schaufensterpuppe dort hat sich eben bewegt.“ Ich deute auf die lustige Figur, die in der Ecke des Raums sitzt.

„Das ist keine Schaufensterpuppe. Das ist ein Phantom. Die Zahnmedizinstudenten lernen an ihm das Röntgen.“ Der Radiologe wendet sich zur Röntgenassistentin. „Ach was. Wir machen die Aufnahme morgen früh, wenn er wieder nüchtern ist.“

Auch schön. Der Pfleger begleitet mich zur Station. Vor der Röntgenabteilung wartet Marietta auf mich. Jetzt ist alles gut. Verlobungstag in der Notaufnahme.