Von Nicole Leidolph

Ihre kleine Hand schiebt sich in meine, als wir uns der Metzgerei nähern. Wir gehen hier jeden Dienstag entlang, immer, wenn wir auf den Markt wollen. Und jedes Mal ist es dasselbe Spiel.

„Nicht so schnell, Mama.“

„Es ist nur eine Puppe, Elli. Sie kann dir nichts tun.“ Das habe ich schon so oft gesagt, aber irgendwie hat dieser Satz keinerlei Wirkung.

Ihre Hand schließt sich noch fester um meine, der kleine Finger wird gegen meinen Ehering gequetscht. Woher nimmt dieses Kind nur die Kraft? Das Schaufenster der Metzgerei Stradtmann kommt in Sicht. Eine Zeitlang haben wir an dieser Stelle immer die Straßenseite gewechselt, aber dort ist jetzt eine Baustelle. Und es ist doch nur eine Schaufensterpuppe. Zugegeben, keine schöne. Das stelle ich immer wieder fest. Sie ist klein, aus Holz und wirkt irgendwie hutzelig. Wahrscheinlich, weil sie schon so alt ist. Sie ist völlig verstaubt, was keinen guten Eindruck macht, aber wir kaufen hier ja auch nicht mehr ein, denn Elli weigert sich, diese Metzgerei zu betreten. Und ich bin es leid, eine schreiende und zeternde Dreijährige im Ladenlokal festzuhalten, damit sie nicht kopflos flüchtet und am Ende noch auf die Straße rennt. Das wirkt jedes Mal, als würde ich mein Kind quälen, was natürlich nicht meine Absicht ist.

Elli presst sich eine Hand auf die Augen, mit der anderen hält sie mich eisern fest. Ich weiß, dass sie jetzt zwischen den Fingern hindurch linst. Irgendwie kann ich auch verstehen, dass die Puppe ihr unheimlich ist. Sie trägt ein rotes T-Shirt mit einer weißen Metzgerschürze, auf der rote Flecke sind. Ob das Blut sein soll? Nicht sehr hygienisch. Dazu hält sie in der erhobenen rechten Hand ein Hackebeil und grinst breit, fast diabolisch. Neben ihr steht ein Holzschwein, das ebenfalls lacht. Der Grund bleibt mir schleierhaft. Es wirkt wie eine verrückte Schlachtszene, in der sich das Schwein auf seinen Tod freut. Aber gut, es ist ein Biometzger und wahrscheinlich soll das fröhliche Schwein zeigen, wie toll es ihm ging, bevor es ein Schnitzel wurde. Und dass es überhaupt kein Problem damit hat, dieses schöne Leben hinter sich zu lassen.

Elli wimmert leise. Ich setze stetig einen Fuß vor den anderen, während sie in einer Art stolperndem Hopserrennen neben mir hereilt und mich fast überholt. Ich mache ihr keinen Vorwurf und bin auch nicht überrascht über ihre überschäumende Fantasie. Stattdessen denke ich an diese scheußliche Kokosnuss, die mein Großvater damals gebastelt hat. Er hat sich viel Mühe gegeben, um sie auszuhöhlen. Ein Gesicht war hineingeschnitzt, aber weil die Schale nun mal sehr hart und die Säge wohl eher stumpf war, wurde aus dem Lächeln eine Fratze. Der Schreck meiner Kindheit ward geboren. Denn Opa, der gelernte Elektriker, setzte noch Lichter hinein und von da an stand das Ding über dreißig Jahre im Partykeller meiner Großeltern und blinkte gemeinsam mit der Lichtorgel im Rhythmus der Musik. So lange, bis meine Eltern das Haus übernahmen und aus dem Partykeller ein Büro wurde. Von dem Moment an musste ich die Kellertreppe nicht mehr hochrennen. Die Kokosnuss mit ihrem bräunlich behaarten Gesicht und den blinkenden Augen konnte mich nicht länger verfolgen.

Aus dem Augenwinkel sehe ich an der Fensterscheibe der Metzgerei einen gelben Zettel kleben. „Geschäftsaufgabe zum 1. März.“ Na sowas. Dann hat sich dieses Problem wohl bald erledigt.

„Wir sind vorbei“, sage ich, als wir auf Höhe der Sparkasse sind. Ich kann hören, wie Elli tief einatmet. Ihre Hand rutscht aus meiner.

„Hat sich wieder nicht bewegt“, sagt sie und strahlt mich an.

„Das ist auch ein hässliches Männchen“, antworte ich.

„Nein, Mama.“ Ihre braunen Augen sehen mich voll kindlichem Ernst an, als habe ich etwas Grundlegendes nicht verstanden. „Nicht das Männchen. Das Schwein.“

 

Version 2