Von Yvonne Tunnat

Ich bin mit der Zeitung fast fertig, da tritt ein weiterer Gast ein. Kurz sehe ich hoch. Pfannkuchengesicht und schlecht rasiert, aber gekleidet in einen zweireihigen Anzug, der aussieht, als wäre er zumindest teilweise aus Kaschmir. Was der wohl in Ahmets Imbiss will?

Sein Blick streift mich, er sagt etwas in meine Richtung.

„Was? Wie bitte?”, frage ich.

„Lassen Sie sie”, sagt Ahmet, während er dem neuen Gast die Karte in die Hand drückt. „Die ist schwerhörig. Sitzt hier jeden Abend herum und liest Zeitung. Ich versuche oft, ein Gespräch anzufangen. Da ist nichts zu wollen.”

Pfannkuchengesicht nickt, ich brumme. Schwerhörig! Ich höre sehr gut. Ihr nuschelt! Euch sollte man alle in eine Theaterschule stecken und euch beibringen, die Worte inklusive der letzten Silben auszusprechen und nicht immer auf halbem Wege aufzugeben. Oder „aufzugbn”, wie ihr sagen würdet.

Pfannkuchengesicht setzt sich in eine Nische möglichst weit weg von mir und bestellt Kaffee und Wasser.

Das Neonlicht flackert, mehrere der Lampen gehen aus. Ich schaue mich um. Die Stimmung im Imbiss wirkt gleich ganz anders, angenehmer. Doch nun reicht das Licht für mich nicht mehr, um die kleinen Buchstaben auf dem Zeitungspapier erkennen zu können.

Ahmet runzelt die Stirn und flucht leise etwas auf Türkisch. Er schüttelt den Kopf und verschwindet durch eine Tür nach hinten.

Ein weiterer Gast kommt herein. Er trägt einen langen, sehr dunklen Umhang, der Kragen ist aufgestellt, seine Haare kleben dicht auf seiner Kopfhaut, wie festgeklatscht. Seine Schritte auf den abgetretenen Fliesen sind fast geräuschlos. Er schaut auf mich. Mit kleinen Augen, die sich sogar noch mehr verengen, als er mich sieht. Ich rühre mich nicht, lasse meine Gesichtsmuskeln ganz entspannt.

Seine Haut ist fahl und großporig. Von der Körperhaltung und seinem Gang her hätte ich ihn für jung gehalten, aber sein Gesicht wirkt, als sei er mindestens zweihundert.

„Die hört nix”, ruft Pfannkuchengesicht.

Der fahle Mann wendet sich von mir ab und setzt sich zu ihm.

„Komischer Treffpunkt”, sagt er mit einer Stimme wie ein perfekt ausgebildeter Tenor. Ich kann ihn mir gut als Synchronstimme für alle möglichen attraktiven Hollywoodstars vorstellen. Außerdem ist er einer der wenigen, die ordentlich sprechen können. Mit allen Silben, die zu einem Wort gehören.

„Aber immerhin riecht es besser, als ich befürchtet hatte.”

„Man setzt hier mehr auf scharfe Gewürzte”, erklärt Pfannkuchengesicht. „Und es ist selten viel los. Hier können wir in Ruhe alles planen.”

Er legt einige Unterlagen vor ihn auf den Tisch. Der Fahle studiert sie sorgfältig, mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Augen.

„Wieso so dringend?”, fragt Pfannkuchen. „Wenn wir uns bis nächstes Jahr Zeit nehmen würden, wäre es viel gemütlicher.”

„Würdest du all dein Tagesgeschäft in nur sieben Stunden schaffen, statt in den sechzehn oder zwanzig, die du jetzt zur Verfügung hast?”, fragt der Fahle, seine eben noch so angenehme Tenorstimme nun eine Nuance höher, zischend. „Und wenn es in diesen sieben Stunden auch noch extrem unangenehm für dich draußen wäre – zu heiß, zu trocken, zu windig.”

„Ja ja!” Pfannkuchen hebt in abwehrender Geste die Arme vor sich hoch. „Ich verstehe ja, ich verstehe ja. Ich habe mich das schon immer gefragt.”

Ich beuge mich etwas näher nach vorn. Pfannkuchen ist bei weitem nicht so gut zu verstehen wie sein Gegenüber.

„Was hast du dich gefragt?”, fragt der Fahle.

„Wie ihr hier im Norden im Sommer zurechtkommt.”

Der Fahle runzelt die Stirn. „Ich dachte nicht, dass sich das jemand fragen würde. Keiner, der nicht selbst betroffen ist.”

Pfannkuchen zuckt die Schultern. „Ich habe mich das auch nur gefragt, weil ich Sie kenne. Sonst hätte ich sicher nicht darüber nachgedacht.”

„Deine Lösung mit den Lastkraftautomobilen kann ich nicht akzeptieren”, sagt der Fahle. „Das ist ganz und gar nicht standesgemäß. Besorg mir ein anständiges Schiff!”

Lastkraftautomobile. Im Plural! Was muss der Mann für einen Besitz haben. Der setzt sich sicher nicht wie ich in einen Imbiss, wenn er mal ein bisschen lesen will.

Pfannkuchen glotzt seinen Gesprächspartner für einen Augenblick nur an. „Ein Schiff? Das können Sie nicht ernst meinen!”

„Unsereiner ist schon immer per Schiff gereist.”

„Das mag sein, aber ein Schiff – woher soll ich ein Schiff kriegen? Ich bin auf Umzüge über Land spezialisiert. Für die See habe ich nicht die richtigen Kontakte.”

„Dann besorg sie”, unterbricht der andere ihn.

„Und der Weg ist dann dreimal so lang!” Pfannkuchen spricht einfach weiter, als ob er ihn nicht gehört hätte.

„Das spielt keine Rolle. Ich werde meine Kabine so oder so nicht verlassen”, murmelt der Fahle. Er knibbelt an seinem Tisch. Seine Fingernägel sind lang und laufen spitz zu. Feilt er die etwa so?

Ich beuge mich in seine Richtung, um besser sehen zu können, dabei rutscht mein Stuhl etwas zur Seite und erzeugt ein Quietschen, das den Fahlen zu mir blicken lässt. Erschrocken halte ich inne. Er mustert mich. Ohne seinen Blick von mir abzuwenden, fragt er sein Gegenüber: „Du, sag mal, die Schaufensterpuppe saß doch eben noch anders da?”

Pfannkuchen schaut kaum auf. „Schaufensterpuppe? Das hier ist ein Imbiss. Die haben keine Schaufensterpuppen. Die haben ja nicht mal Schaufenster. Bloß Fenster.”

„Was weiß ich! Ich bin das erste Mal in einem Imbiss! Und die sitzt ja schließlich am Fenster.”

Pfannkuchen bleibt geduldig und erklärt: „So etwas ist für Bekleidungsgeschäfte.”

Der Fahle erhebt sich und deutet zu mir: „Dort! Ich dachte, vielleicht, um die Leute herzulocken. Ein leerer Imbiss ist trostlos, das hat mir mal jemand erzählt. Sieht ja ganz hübsch aus. Ein wenig alt vielleicht.”

Er nickt in meine Richtung. Pfannkuchen schaut ebenfalls zu mir.

„Das ist doch keine Puppe!”

„Du hast doch selber gesagt, die hört nichts”, wirft der Fahle ein.

„Ja, weil die schwerhörig ist. Hat Ahmet gesagt.”

Ahmet ist noch immer nicht wieder da. Ich lasse mich in den Stuhl sinken und warte ab, was passieren wird.

„Die ist doch nicht schwerhörig!”, behauptet der Fahle. Er steht auf und geht auf mich zu. Wie er da vor mir steht, scheint er geradezu bis zur Decke zu reichen.

„Du hast uns doch die ganze Zeit zugehört!”. Er entblößt seine Zähne. Als ob ich nicht längst schon wüsste, wer und was er ist. Ich muss grinsen, erhebe mich ebenfalls. Er ist größer als ich, aber nicht viel.

„Ich finde diese Idee sehr gut. Im Sommer nach Italien, im Winter hierher zurückkommen und die langen Nächte des Nordens genießen”, sage ich.

Auch ich öffne meinen Mund, weit genug, dass ihm meine spitzen Eckzähne nicht entgehen können. „Gern würde ich mich Ihnen anschließen.”

 

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