Von Andreas Roß

Der Mann im grauen Anzug öffnete gehetzt die hintere Tür des Taxis. Eilig warf er seinen schwarzen Aktenkoffer in das Fahrzeuginnere und sprang hinterher. „Fahren Sie mich zum Hauptbahnhof, aber beeilen Sie sich!“, bellte er los.

Der Taxifahrer reagierte nicht. Regungslos saß er auf dem Fahrersitz und schaute durch das trübe Fensterglas auf die Straße.

„Was ist?“, keifte der Fahrgast nervös.

Der Mann auf dem Fahrersitz ließ einige Sekunden verstreichen. Behäbig bewegte er sich. Seine Augen bildeten sich groß im Rückspiegel ab. Sie schienen zu lächeln. „Nur keine Hektik“, sagte er so langsam, wie sich im Herbst ein Blatt vom Baum löst und nach unten auf den Boden gleitet. „Schließen Sie erst einmal die Tür.“

Der Anzugträger war so verblüfft, dass er gehorchte. Die Tür knallte ins Schloss. Erst jetzt bemerkte der Mann, der seinen Mantel vor lauter Eile beim letzten Geschäftstermin hängen gelassen hatte, die abgestandene Luft im Taxiinneren.

„Sie müssen wissen“, sagte der Mann auf dem Fahrersitz und drehte den Oberkörper schwerfällig nach hinten. „Sie müssen wissen, mit der Zeit werden Sie ruhiger werden.“

Der Geschäftsmann erschrak, als er dem Taxifahrer ins Gesicht blicken musste. So etwas hatte er noch nie gesehen. Er analysierte das, was sich ihm darbot, und verglich es im Geist mit einem Totenkopf, über den dünnes Leder gespannt war. Hinten am Schädel hingen graue Haare, die von einer verschlissenen, blauen Schirmmütze zusammengehalten wurden. Alles war so morbide. Nur die Augen passten nicht zu dem Gesicht. Sie waren groß und wirkten lebendig.

Der Mann im grauen Anzug schaute angewidert aus dem Fenster, dachte an seinen nächsten Termin in Frankfurt und erlangte nach kurzer Zeit sein Selbstbewusstsein und seine Wut zurück. „Was fällt Ihnen ein, mich derart voll zu quatschen? Sie sind Taxifahrer und ich bin der zahlende Gast. Ich sage Ihnen, wo es langgeht, und Sie bringen mich dorthin. Und zwar sofort! Ich will zum Bahnhof! Habe ich mich klar ausgedrückt?“

Der Mann auf dem Fahrersitz umklammerte mit ausgestreckten Armen das Lenkrad und schüttelte wie in Zeitlupe den Kopf. “Nein, nein, so geht das nicht. Sie verstehen gar nichts. Zeit wird zum Ärgernis werden, denn sie kann sich verdammt lang ziehen, selbst wenn man ein Radio hat.“

„Was soll der Quatsch?“, brüllte der Geschäftsmann und beugte sich nach vorne. Der Chauffeur drehte sich noch einmal um und lächelte. Der Gestank aus seinem  Mund traf den Fahrgast mit solch einer Wucht, dass er sich auf dem Sitz zurückfallen ließ, um nicht erbrechen zu müssen. Durch den Mund atmete er tief ein und aus. Als er etwas Ruhe gefunden hatte, formulierte er mit gedämpft aggressiver Stimme: „Es ist mir so etwas von egal, was Sie von der Zeit halten. Ich will jetzt gefahren werden, sonst suche ich mir ein anderes Taxi.“

 Als der Taxifahrer lediglich leise lachte, aber keinen Versuch unternahm, den Motor des Fahrzeuges zu starten, lief das Gesicht des Fahrgastes rot an. Er zerrte wild am Türöffner und schrie: „Entriegeln Sie die verdammte Kindersicherung. Ich will aussteigen!“ Als nächstes suchte er nach der Kurbel, um die Scheibe herunter zu drehen, fand aber keine.

Der Mann auf dem Fahrersitz lächelte noch immer, als er sich wieder herumdrehte: „Sie verstehen noch nicht, dass Sie mich gefunden haben. Sie sind freiwillig eingestiegen und haben aus freien Stücken die Tür geschlossen.“

Der Anzugträger schaute irritiert. Er begann zu schwitzen, nahm sein Handy und wählte die Notrufnummer.

 „Ihr Handy wird nicht funktionieren. Hier im Taxi funktionieren nur das Radio und der Taxameter. Schauen Sie, Ihr Taxameter läuft seit vier Minuten und fünfzehn Sekunden.“

„Ach so ist das! Sie spielen auf Zeit. Hören Sie, ich habe einen wichtigen Termin in Frankfurt. Wenn Sie mich so rechtzeitig zum Darmstädter Hauptbahnhof bringen, dass ich den ICE um 15.04 Uhr erwische, dann gebe ich Ihnen 100 Euro.“

„Ha, ha, ha.“

Das Lachen donnerte gegen die angelaufenen Windschutzscheiben und prallte davon ab.

 „Ich möchte doch lediglich zum Hauptbahnhof gefahren werden, verstehen Sie das denn nicht?“, murmelte der Mann auf der Rückbank verunsichert. Leise, fast flehend fügte er hinzu: „Bitte fahren Sie mich.“

 

Der magere Mann auf dem Fahrersitz schaute vergnügt aus dem Fenster und beobachtete eine Frau, deren Dackel einen Haufen mitten auf dem Gehweg hinterließ. Irgendwann sagte er so leise, dass sich der Geschäftsmann anstrengen musste, um es zu verstehen: „Ich werde Sie nicht fahren. Genau das werde ich nicht tun!“

Der Angesprochene benötigte einige Zeit, um das Gesagte zu verarbeiten. „Das werde ich nicht tun“, hallte es in seinem Kopf. „Das werde ich nicht tun.“

Er lag regungslos auf dem alten Polster, das sich anfühlte wie der weiche Flaum, der sich auf einem Haufen alter Champignons gebildet hatte. Sein Mund stand halb offen. Seine Augen brannten, er hatte längere Zeit nicht geblinzelt. Wirre Gedanken kreisten in seinem Hirn. Überall nur Fragen und keine Antworten oder sogar Lösungen. Plötzlich schluckte der Geschäftsmann und brachte die Frage über seine Lippen, vor der er sich fürchtete: „Was wollen Sie von mir?“

„Ich will gar nichts von Ihnen. Es geht nicht um mich. Es dreht sich momentan alles um Sie“, antwortete der Taxifahrer freundlich.

„Dann lassen Sie mich aussteigen.“

Gemächlich drehte der Mann auf dem Fahrersitz seinen Oberkörper so weit, dass er dem Geschäftsmann direkt in die Augen blicken konnte. Er sprach, als wolle er einem kleinen Kind die Welt erklären: „Sie verstehen noch immer nicht. Ich kann Sie nicht aussteigen lassen. Das ist unmöglich. Wenn es jemanden gibt, der Ihnen erlaubt auszusteigen, dann sind Sie es selbst. Sie sind der Mittelpunkt des Geschehens, wie es halt so ist in jedem Leben.“

Kalter Schweiß rann dem Geschäftsmann über die Stirn. Instinktiv griff er in seine Jacketttasche, holte ein verwaschenes Stofftaschentuch heraus und wischte sich das Gesicht trocken. Sein Herz pochte wild, sein Körper war bereit aufzuspringen und zu flüchten, nur weg von hier, weg von diesem unsäglichen Ort, aber in seinem Kopf herrschte lediglich Leere. Trägheit und Hoffnungslosigkeit waren zu groß, um einen klaren Gedanken fassen zu können.

Der Mann am Steuer hielt sich am Lenkrad fest, der Taxameter tickte. Vergnügt pfiff er ein Lied. Seine verschlissene Schirmmütze wippte sanft im Takt. „Und nun?“, fragte er endlich, ohne sich umzudrehen und antwortete gleich darauf: „Nun sehen Sie es selbst, Sie haben alle Zeit der Welt.“

Der Geschäftsmann saß zusammengekauert auf der Rückbank. Die Adern an seiner Stirn pochten. Er schien mit den Worten zu kämpfen, die er gehört hatte. Endlich verzog sich sein Mund, erst langsam, dann tropfte Speichel aus einem Winkel und plötzlich brach es gleich einer Eruption aus ihm heraus: „Nein, nein, ich habe keine Zeit. In bin in Eile. Ich habe heute noch einen wichtigen Geschäftstermin. Ich muss zum Bahnhof!“ Sein gesamter Körper spannte sich an. Er passte nicht mehr zu den weichen Sitzpolstern. Mit der geballten Faust schlug der Geschäftsmann gegen die Scheibe, die er zuvor nicht zwischen Vorder- und Rücksitz wahrgenommen hatte. Er musste etliche Male dagegen schlagen, bis sie ihm bewusst wurde. Danach richtete er seine gesamte Wut gegen die Fensterscheibe, die ihm den Weg zum Bürgersteig versperrte. „Hilfe, ich werde entführt. Hilfe. Hilfe!“

Die Passanten, Männer wie Frauen, liefen an dem Taxi vorbei, als wenn es nicht existieren würde. Der Geschäftsmann kämpfte weiter gegen seine Begrenzungen an, wie ein wildes Tier, das sich noch nicht an den engen Käfig gewöhnt hat. Er schrie und schlug um sich, Minutenlang, dann kratzte er an der Scheibe, bis seine Finger schmerzten. Er war gefangen, hatte keine Chance zur Flucht. Ein mächtiges Ohnmachtsgefühl überfiel ihn, es ließ ihn zusammensinken, als befände sich kein Knochen in seinem Körper.

„Hoffnung ist der Motor des Geistes. Wenn es keine Hoffnung gibt, dann gibt es auch keine Bewegung mehr“, bemerkte der Mann auf dem Fahrersitz, wartete einen Augenblick und fügte dann hinzu: „Aber der Zeitpunkt wird kommen, wo neue Hoffnung keimt und der Motor wieder anspringen wird. Er wird erst stottern und unrund laufen, aber wenn Sie ihn gut behandeln, dann haben Sie eine berechtigte Chance, ihre Lektion zu lernen.“

„Welche Lektion?“, stöhnte der gekrümmt Daliegende.

„Ach, ich möchte Ihnen noch einen Rat mit auf dem Weg geben“, sagte der Schirmmützenträger: „Irgendwann werden auch Sie so dünn sein und durch den schmalen Ritz zwischen den beiden Vordersitzen passen. Es ergibt Sinn, wenn Sie sich nach vorne setzen. Vom Fahrersitz aus ist es einfacher, das Radio zu bedienen.

So, nun ist meine Zeit gekommen. Ich werde mich verabschieden.“

Die hagere Gestalt drehte sich ein letztes Mal nach hinten, tippte mit seinem Zeigefinger gegen den Schild seiner Kappe und öffnete die Fahrertür. Kurze Zeit später knallte sie so hart ins Schloss, dass der Mann auf der Rückbank zusammenzuckte.

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