Von Maria Lehner

König Wladimir hatte in letzter Zeit viel um die Ohren gehabt. Jetzt macht er Pause, sitzt an einem langen weißen Tisch und malt. Er malt sehr sorgfältig ein blau-gelbes Band und ist gerade dabei, es mit heftigen Zickzackbewegungen schwarz zu übermalen. Im Hintergrund läuft der deutsche Radiosender. Den hört er gern, die Sprache versteht er. Ah: Interessant – da spricht dieser Wolodymyr Oleksandrowytsch aus dem Feindesland. Wladimir Wladimirowitsch lacht bitter: „Ein Schauspieler, ein Clown ist das – niemals ein König!“ sagt er, der als König ein Clown ist. Die Rede ist auch viel zu empathisch, findet er. Eine Simultanübersetzerin übersetzt sie ins Deutsche; es geht ihr zu Herzen, sie beginnt prompt zu weinen. Was soll das denn?! Der König muss die Augen zusammenkneifen vor Zorn. Sie beginnen plötzlich höllisch zu brennen, sind trocken und fühlen sich an, als wenn jemand mit einer Gabel darin herumstochern würde. Der eilig herbeigeholte Arzt sagt: „Ehrenwerter König, versucht zu weinen. Das wird die Schmerzen lindern!“ Weinen? König Wladimir deutet dem Arzt: „Verschwinde!“. Als Vierjähriger hatte er geweint, als ein Soldat sein Hündchen überfahren hatte. Kinder weinen oder eben Frauen wie die da gerade. Oder unbeherrschte Männer. 

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Wie das brennt! Sein wichtigster Sinn ist außer Kontrolle, denn er ist nicht nur König, sondern auch Künstler – wird er das Bild zu Ende malen, das Blau-Gelb übermalen, können? Er hört weiter Radio. Es singen seine eigenen Untertanen „Dieses Land ist gegen den Krieg“. Des Königs Augen sind ein einziger Schmerz, den der Anblick des grellweißen Tisches – der auf dem blendend weißen Marmorboden steht – verstärkt. Er beginnt, den Tisch mit schwarzer Farbe zu bemalen und schon geht’s ihm besser. Die Helligkeit muss weg – und die Farben.

Mit dieser Sehstörung verändert sich seine Wahrnehmung. Überall sieht er Schlieren von schmerzenden Erinnerungen, und alles, was sich an Gewaltfantasien, Gemeinheiten, Bösartigkeiten und schlechten Träumen gesammelt hat: Bunt!!! Die Farben sind ein einziger frecher Schrei, der ihm entgegenschlägt. Des Königs Augen fangen alle diese Eindrücke auf wie ein irrer Parabolspiegel und bündeln sie in seinem Gesichtsfeld: Erschreckend bunt! Übermalen!

Man muss alles im Dunkel verschwinden lassen. Plitsch macht es, wenn er den Pinsel ansetzt. Der schwarze Farbeimer ist noch fast voll. Da draußen auf der Bank ist ein alter Mann. Er könnte der Vater eines Deserteurs sein: Plitsch. Der Mann ist schwarz, ebenso wie die Bank. Es gibt ihn nicht mehr, daher auch nicht seinen Sohn, den Deserteur. Es gibt überhaupt keinen Deserteur. Eine Frau im bestickten bunten Mantel – ist das nicht das farbenfrohe Muster des karpatischen Bergvolks aus dem Nachbarland? Plitsch: die Frau im schwarzen Mantel. Es gibt das Muster nicht, die Frau nicht und das Nachbarland nicht. Das Dunkel wächst am hellichten Tag.

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„Wladimir Wladimirowitsch, die Menschen verhalten sich seltsam. Erstarrt vor Angst“, berichtet sein Vertrauter, Dmitrij, ein paar Tage später am Telefon. „Als ob einer den Schalter in der Hand hätte, in dessen Macht es liegt, dass nahezu das gesamte sichtbare Lichtspektrum verschluckt wird“.

Was König Wladimir darauf sagt? „Genau! Den Schalter umlegen! Die Sonne auslöschen: Plitsch! Nur mehr Schwarz“. Er ist sicher, es liegt in seiner Macht, dass nahezu das gesamte sichtbare Lichtspektrum absorbiert werden kann Plitsch.

Dmitrij meint, verdutzt über die Worte seines Königs: „Ich glaube, bald drehen wir alle durch. Besser wir gehen einen heben!“

„Nicht jetzt“ (der Angesprochene sagt das nicht zögernd, sondern fest und entschlossen:), „ich habe eine kreative Phase, ich mache Experimente und Skizzen und bleibe zu Hause“.

„Euer Auge, mein König?“, wird er gefragt und antwortet: „Geht so! Ein bisschen lichtempfindlich, darum gehe ich nur nachts raus“

 

Wladimir Wladimirowitsch arbeitet daran, die Sonne mit einer Sprühdose zu treffen, auf dass es nur mehr Nacht gibt (das mit den Sternen wäre dann ein zweiter Schritt). Die Welt ist dunkel geworden und die Menschen wollen sich nicht mehr von ihr abheben. Hinter zugezogenen Jalousien in seinem Zimmer (der Tisch ist schwarz lackiert, die Wände dunkel und Teppiche decken den weißen Marmorboden ab) überlegt er: Wenn man die diffamierenden und unfreundlichen Schlagzeilen der ausländischen Zeitungen über seine Person übermalt – werden sie dann unwahr? Plitsch?

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Die Farbe geht dem Ende zu. Die Sonne ist noch immer unversehrt.  Schwarze Farbe zu kaufen, hätte König Wladimir verraten. Nicht, dass er das nicht gewollt hätte, schließlich darf er alles, er ist ja der König. Aber den Zeitpunkt, eine Wahrheit ans „Licht“ zu bringen, will er inszenieren und nicht unbedacht verschenken. Außerdem sollen, erfährt er, Abtrünnige dafür gesorgt haben, dass die schwarzen Sprühdosen und Farbeimer überall aus dem Sortiment genommen worden waren. Die Namen sind bekannt, er trägt sie in die lange Liste ein. Er weiß, dass er als König alles kann. Gehorchen ihm nicht auch sämtliche Naturgesetze? Farbe – pah! – lächerlich: Natürlich wird er selber das Schwarz herstellen!

Doch die Chemie ist, bemerkt der König, unbestechlich (er notiert das und wird es ihr vergelten). Wladimir Wladimirowitsch experimentiert. Zu schnell kann die Farbe umschlagen: Rot, Gelb, Blau zu gleichen Teilen; zum entstandenen Braun noch Blau zugeben… dennoch entsteht nur kühles Nachtschwarz aber kein tiefes Schwarz. Er liest über Experimente mit gebranntem Elfenbein und Trester. Irgendwann liest er von verfaultem Fleisch, von der Herstellung des Schwarzpulvers aus Leichen zu Zeiten Napoleons.

Sein Vertrauter, Dmitrij, sucht um Audienz an und fragt: „Na, heute einmal um die Häuser ziehen, bevor alles im Schwarz versinkt?“

„Ah – weil du grade Schwarz sagst: Ich experimentiere noch an etwas“, lässt Wladimir Wladimirowitsch verlauten „Kannst du mir Ruß aus dem Krematorium besorgen?“ Dmitrij nickt und fragt nicht weiter nach. Er bewundert seinen König für dessen Fantasie.

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Sattes Schwarz entsteht und wird angerührt.  Kleine Farbeimer schleppt Wladimir Wladimirowitsch durch die Stadt, getarnt im schwarzen Mantel und Schlapphut. Die Welt rund um ihn wird ertränkt in immerwährendem alles schluckenden Dunkel: Die Menschen schminken sich mit Ruß und tragen schwarze Kleidung. Jeder Platz, jedes Blatt am Baum atmet Angst. Kinder werden in schwarzen Kinderzimmern gehalten; man erzählt ihnen von finsteren Schlünden und undurchdringlichen lichtlosen Wäldern. Man füttert sie unablässig mit düsteren Gedanken und tiefschwarzem Grießbrei. Plitsch, die Kinderseelen werden schwer und sinken sofort zu Boden. Das ist fast wie die Sonne auslöschen. König Wladimir kann wieder ruhig atmen.

Aber die Welt ist eben nirgends und niemals, nicht einmal für einen König, perfekt: Ein Mädchen, nur kurz unbeaufsichtigt, öffnet sein schwarzes Zimmerfenster und riecht den Frühling. Der Geruch ist stärker als der Geruch der schwarzen Farbe. Die bunte, bisher sorgsam unter dem schwarzen Bett versteckte, Puppe setzt es auf das Fensterbrett. Sie kippt und fällt auf das schwarze Rasenstück zwischen der schwarzen Mauer und dem schwarzen Gehsteig. In ihrer Buntheit wäre das Spielzeug wahrscheinlich sogar noch von einem Satelliten aus erkennbar. Das Kind hat es so eilig, dass es seine schwarze Brille nicht aufsetzt. Es schlüpft zur schwarzen Tür hinaus, schleicht durch das schwarze Treppenhaus und – genau vor der Puppe steht es Aug in Aug mit Wladimir Wladimirowitsch. Der ist perplex – er hatte doch alles unter Kontrolle!

Plitsch: Er überzieht die bunte Puppe mit einem Klecks Schwarz und augenblicklich beginnt sich das Gesicht der Puppe nicht nur zu verfärben, sondern verändert sich infolge einer chemischen Reaktion, die das Material mit dem Farbstoff eingeht. Die Konturen des Puppengesichts zerfließen und die Gesichtshaut runzelt sich, sodass die Puppe greisenhafte Züge annimmt, als sei sie innerhalb von Sekunden um Jahrzehnte gealtert. Das Kind zerrt seine Puppe aus der schwarzen Pfütze und in lautlosem Weinen schießen ihm die Tränen aus den Augen. Der König, noch in gebückter Haltung mit seinem Farbtopf direkt über der Puppe, sieht zornig zum weinenden Kind auf.

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Eine Träne trifft sein rechtes Auge, sie benetzt sogar noch das linke. Die Kinderträne enthält Salze, die das Gift aus dem Auge des Königs herausschwemmen. Mit einem Mal sieht er, was aus der Welt und den Menschen geworden ist und darüber steigen ihm alle Tränen in die Augen, die er Zeit seines Lebens nicht geweint hat. Jede Träne absorbiert sofort einen schwarzen Klecks. Die Menschen weinen, die Litfasssäulen, die Veilchen, die Hunde, die Zäune, die Fahrräder, die Krähen sogar… alles Traurige, Böse, Angstvolle fließt mit diesen Tränen ab als ein riesiger dunkler Strom. Die Welt hat wieder alle Farben – auch das Schwarz hat seinen Platz darin, aber eben einen kleinen nur.

Durch ein offenes Fenster dringt Jubel und Stimmengewirr. Wladimir Wladimirowitsch staunt: Was? Leute aus dem Feindesland leben hier? Auch Könige wissen wohl nicht alles. Im Chor wird gerufen „viyna zakinchena“. Er versteht sowohl die Sprache als auch die Botschaft und ist erleichtert: Wie angenehm – der Krieg ist zu Ende!

Das gefällt dem König, denn er hat jetzt viel Freizeit. Er malt. Sein Bild „Mädchen mit Puppe“ ist das bunteste und fröhlichste, das die Welt je gesehen hat. In jedem Haus hängt ein Druck davon. Wenn Gäste aus anderen Ländern kommen und ein solches Bild bewundern, sagt man ihnen stolz: „Das hat unser König gemalt!“

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