Von Edwin Radnitzky

Wann ist die Dame gegangen? Muss so etwa vor zwei Stunden gewesen sein, um Vier also. Tina hieß sie, angeblich. Der slawische Akzent war nicht zu überhören. Spielt ja auch keine Rolle, solange alles andere stimmt. Und das hat es, mehr als das sogar, da konnte sogar ich noch etwas lernen. Andererseits, ganz schön anstrengend, der Jüngste bin ich ja auch nicht mehr. Vielleicht sollte ich doch einmal ins Fitness-Center? Oder das nächste Mal eine Massage ordern? Egal jetzt. Tatsache ist, dass ich nicht einschlafen kann, der Puls ist noch viel zu hoch. Sollte schon längst wieder unter 70 sein. Ist er aber nicht, 110 zeigt das Messgerät. Wird wohl auch der Cabernet-Sauvignon mitspielen, zwei Flaschen waren es ja doch. Sechs Uhr. Vielleicht hilft ja das neue Präparat, das mir mein Arzt-Kumpel verschrieben hat, unter der Hand natürlich; weil wenn das rauskommt … Die schrecken ja vor nichts zurück, wenn’s darum geht, missliebige Bewerber auszubooten; eine e-Card ist schnell gehackt, und so ein starkes Aktivierungsmittel‘, nicht gut für meine Bewerbung heute Nachmittag … Scheint übrigens bereits zu wirken, ich fühl‘ mich schon deutlich besser, ein bisschen schwindelig vielleicht. Mal sehen. Welcher Tag ist eigentlich heute?

Muss noch rasch den Vorhang zuziehen. Ich mag die Vorstellung, dass uns jemand dabei zuschauen könnte … Moment, was ist das denn? Seit wann ist das Tor zum Park zugemauert? Hat sich da jemand einen Scherz erlaubt? Das muss ich mir aus der Nähe ansehen.

Tatsächlich, eine solide Mauer, mindestens zwei Meter hoch. Merkwürdig, die Ziegel­steine sehen aus wie Fische. Sie schauen mich an, alle, schwänzeln ein bisschen. Wenn ich mit der Hand nach ihnen taste, ziehen sie sich zurück; wenn ich den Arm ausstrecke, entsteht ein kleiner Trichter. Alles lautlos. Und wenn ich, wie jetzt, die Arme ausbreite und zwei Schritte nach vorne mache, weichen sie zurück, blitzschnell, in geschlossener Formation, halten immer ein kleines bisschen Abstand, egal, was ich tue. Genau wie in diesen Dokus, wenn der Hai in einen Makrelenschwarm einbricht.

Der Zeitungskiosk nebenan öffnet gerade. Ich schwebe hin, fühle mich durchsichtig und leicht. Die Zeitungen sind heute bunt, das gefällt mir, die Schlagzeilen wellen sich. Toller Effekt, die Marketing-Fuzzis sind auf Draht! Was sagen Sie zu dieser Mauer, meine Stimme hallt ungewohnt sonor, da ist ja unerhört! Welche Mauer, kommt es schläfrig zurück, ich seh‘ keine Mauer. Ob er denn über Nacht blind geworden sei, frage ich zurück. Er schüttelt den Kopf und schneidet die Zeitschriftenpakete auf. Merkwürdig, sonst ist er doch immer so gesprächig? Ich wende mich zum Gehen.

Eine Fahrradklingel reißt mich aus meinen Gedanken, ich springe zurück, kann gerade noch ausweichen. Der junge Mann, offenbar Lieferservice, hält an, mustert mich miss­trauisch. Ob mir nicht kalt sei? Ich blicke an mir herunter. Eine grün schillernde Schlan­ge kriecht an mir empor, sachte gewiegt von einer gallertigen Wölbung, die mir den Blick auf die Zehen verwehrt. Gar nicht, gebe ich zurück, alles roger. Aber wieso tragen Sie einen Käselaib auf dem Kopf? Der schmilzt ja schon, merken Sie das nicht? Sie sehen aus wie ein riesiger gelber Tintenfisch, der Käse tropft ja schon auf die Straße! Und erst ihr Fahrrad, sieht aus wie aus Stein, ist das nicht schrecklich mühsam? Das solle es ja gerade sei, er trainiere schon mal, er wisse zwar noch nicht wofür, aber das werde sich schon noch ergeben. Er nickt mir zu und schwankt davon.

Training. Ich muss mal im Keller nachsehen, da müsste doch noch mein altes Ruder­gerät stehen. Hat mir damals sehr geholfen, in der Steinzeit, als mich meine Gefährtin rausschickte zum Mammutjagen. Vielleicht funktioniert es noch? Die Tür klemmt ein wenig, ich mache Licht, und da sehe ich es: Das Ding füllt den ganzen Raum aus, wie soll ich das jemals aus dem Keller rausbekommen? Neben mir knirscht es: der Haus­wart. Mit einer violetten Mähne, die er gestern Abend definitiv nicht hatte. Er sagt etwas, es klingt wie Laute aus dem Synthesizer. Ich deute auf das Rudergerät. Er öffnet den Mund, Synthesizer, greift in das Kellerabteil hinein und stellt das winzige Rudergerät vor mich hin. Jaja, die Frauen, er grinst wie ein Kürbis zu Halloween, auf einmal kann ich ihn wieder verstehen. Und mit ihren Haaren sollten Sie was machen, Glatze kommt nie gut rüber. Weg ist er.

Ich schleppe das Gerät in meine Wohnung, das Türschloss fühlt sich wie Wachs an. Die Dielen im Vorzimmer sind irgendwie sumpfig; ich stapfe ins Bad. Alles aus Wachs, außer dem Spiegel. Ich stütze mich am Waschbecken ab, die Ränder geben langsam nach. Aus dem Spiegel blickt mich eine Gestalt mit blutunterlaufenen Augen an, deren Konturen zu pulsieren scheinen. Am auffälligsten die wächserne Glatze, aus der sich Würmer herauswinden, sich einrollen und in den Ausguss fallen. Sexy sieht anders aus, schießt es mir durch den Kopf, der Hauswart hat ganz recht, ich muss ihn fragen, wie er zu seiner verwegenen Mähne gekommen ist. Nur violett kommt nicht in Frage.

Das Rudergerät passt inzwischen wieder zu meiner Körpergröße. Das Wohnzimmer strahlt im Licht einer überdimensionalen Discokugel, die höllisch schnell rotiert. Sumpf auch hier. Irgendwer muss Techno aufgelegt haben, die Bässe wummern, blasen mich auf, bis ich den Raum ausfülle. Irgendwie schaffe ich es, die Anlage abzustellen, falle in mich zusammen. Rudern, rudern. Ich brauch‘ eine Pause. Wo bleibt Tina? Ich will ein Foto von mir haben, das kommt sicher gut bei der neuen Kollegin mit den spiralförmigen Beinen. Tina? Sie hat sich irgendwo versteckt, wahrscheinlich treibt sie’s gerade mit der violetten Mähne, im Nebenzimmer. Tina! – Dann eben nicht, ein Selfies wird’s auch tun. Das Smartphone auf dem Stick kommt immer näher, bedrohlich näher, öffnet sein Maul, Uwe Seeler blickt mir entgegen, ich beiße zu, es knackt zwischen den Zähnen, die Einzelteile fallen in den Sumpf, in dem ich stehe. Uwe Seeler ist nicht mehr. Muss ich die Spiralfrau eben anders becircen. Und jetzt leg ich mich mal ein bisschen hin, das hab ich mir verdient.

Ich öffne die Augen. Vor mir, auf der Bettkante, hockt ein Papagei. Ein Papagei? Gustav? Der gehört doch meiner Mutter, die sonntags immer zur Jause kommt, mit Gustav im Käfig, damit er auch ein bisschen was von der Welt sieht, wie sie mir jedes Mal erklärt. Ich schaue auf die Uhr: halb Fünf; in der Küche rumort es. Rund um mein Wasserbett zwei umgekippte Gläser, eine gesprungene Weinflasche, säuerlicher Ge­ruch, Chips und Zigarettenasche auf dem Teppich, meine Wäsche überall verstreut. Gustav hat inzwischen ein Präservativ entdeckt, offensichtlich gebraucht, an dem er krächzend zerrt. Ich muss es ihm abluchsen, um jeden Preis, was würde Mutter sagen? Die Jagd rund ums Bett kostet drei Zimmerpflanzen das Leben, Topferde überall, leere Erdnussschalen aus Mutters Kristallschüssel gesellen sich zur Asche auf dem Teppich. Was um Himmels willen ist eigentlich geschehen? Sonntag. Wieso eigentlich Sonntag, war es nicht gerade erst Freitag? Oder doch … Mittwoch? Lang­sam kehren die Erinnerungen zurück, Tina … Cabernet Sauvignon … die Pille auf dem Waschtisch im Badezimmer … dann die Mauer … der Fahrradkurier … Hab ich schlecht geträumt? Ich muss das checken, bevor ich mich bis auf die Knochen vor meiner Mutter blamiere. Behutsam nehme ich Hemd und Slip aus dem Schrank, schlüpfe in meinen besten Anzug, überzeugt bin ich noch immer nicht, aber offenbar ist tatsächlich Sonntag, Mutter legt Wert auf ein gepflegtes Erscheinungsbild. Ich schleiche an der geschlossenen Küchentür vorbei aus der Wohnung, trete vor die Haustür. Das Tor zum Park steht offen, eine Gruppe von Spaziergängern nähert sich. Am Kiosk hängt die Sonntagszeitung. Erleichtert drehe ich mich um, will zurück zum Haus. Ein Schrei, rasselnd und quietschend hält ein Fahrrad neben mir, es sieht sehr massiv aus. Wie übrigens auch der Fahrer, ein junger Mann, leicht außer Atem. So elegant, keucht er, heute Morgen hatten Sie’s eher mit luftig? Luftig. Was meint der Kerl? Aber die Sache mit dem Käse war prima, er klingt aufgeregt, ein echtes Geschäftsmodell! Ultra Cheese Trial, wie klingt das? Zehn Minuten Schwimmen im Käsefondue-Becken, dreimal tauchen inklusive, dann aufs Steinrad, mit dem schmelzenden Käselaib auf dem Kopf, zehn Kilometer, und als krönender Abschluss die Käsyphos-Prüfung, dreißig Meter hinauf auf die Käsepyramide, auf der der Schlussstein, also -käse fehlt, das wird schon ein paar Versuche kosten. Wer den Laib am schnellsten hinaufschafft, darf sich, ich weiß noch nicht, wie, nennen – haben Sie vielleicht einen Tipp? Ich winke ab, schleiche zur Haustür zurück. Was bleibt, ist das Rudergerät in meinem Wohnzimmer. Muss wohl besser auf mich achtgeben. Wegen der neuen Kollegin…

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