Von Angelika Zeising

Das Rauschen des Wassers mischt sich mit dem Dröhnen in meinen Ohren zu einem undurchdringlichen Schleier. Das grelle Licht der Spiegellampe blendet und sticht schmerzhaft in meinen übermüdeten Augen. Ich schließe sie und bin augenblicklich alleine. Endlich.

Ich stütze mich am Waschbeckenrand ab und atme gegen das Herzrasen an, das unaufhörlich meinen Brustkorb vibrieren lässt. Wie konnte es nur so weit kommen?

Während ich die Augen wieder öffne, verkrampft sich mein Magen. Das Blut an meinen Händen wird bereits braun. Hastig halte ich sie unter den Wasserstrahl, unterdrücke den Spuckreiz und fange an zu schrubben. Warum habe ich uns nicht aufgehalten?

Erst als die Nagelbürste droht meine Finger aufzulösen, lasse ich davon ab und greife zitternd nach dem Handtuch. Was haben wir nur getan?

Verloren sehe ich mich um. Du bist noch immer nicht da und ich weiß sofort, dass ich nur diese eine Chance habe. Ich schlucke schwer und fasse einen Entschluss. Ich muss es beenden, hier und jetzt.

Ich brauche zwei Anläufe, um das Smartphone aus meiner Gesäßtasche zu ziehen. Fürs Entsperren sogar drei. Doch dann hält mich nichts mehr auf. Ohne nachzudenken wähle ich die Nummer des Notrufs. Die junge Frauenstimme, die ertönt, lässt mich erschrocken zusammenzucken. Nur schwer kann ich den Reflex, sofort wieder aufzulegen, unterdrücken.

„Brunnenstraße 74. Schicken sie einen Krankenwagen“, krächze ich in den Hörer. Mein Griff um das Gerät wird immer fester, als wolle mein Innerstes es mit reiner Willenskraft zerdrücken.

„Und die Polizei, es ist alles außer Kontrolle geraten“, keuche ich hinterher und plötzlich lösen sich unkontrolliert meine Finger.

„Sofort“, schreie ich schnell. Ich versuche, gar nicht erst nach dem Handy zu greifen. Es ist zu spät. Mit einem dumpfen Platschen landet es im Wasser und wird unverzüglich schwarz.

Wie automatisiert drehe ich den Hahn zu und lösche das Licht. Meine Augen brauchen einen Moment, um sich an das Zwielicht des Sonnenaufgangs zu gewöhnen, das durch die Fensterjalousie dringt.

„Was ist los mit dir? Warum bist du so nervös? Es ist doch alles gut“, sprichst du mich unvermittelt an. Deine hohe Stimme lässt mich abermals zusammenzucken. Als ich meinen Blick hebe, sehe ich dir direkt in die braungrünen Augen und erschaudere. Das zufriedene Grinsen auf deinem Gesicht signalisiert mir eindeutig, dass du den Anruf nicht mitbekommen hast. Und doch jagt mir deine Gelassenheit eine Heidenangst ein. Ja ich selbst, nein wir sind unsagbar angsteinflößend.

Der Moment der Einsamkeit ist so schnell und plötzlich vorbei, wie er gekommen ist. Noch einmal atme ich tief ein und versuche die Panik, zu verdrängen, die jedes meiner Organe in einen unbarmherzigen Schraubstock zwängt. Es darf mich nicht aufhalten. Nicht schon wieder. Nicht dieses Mal.

Meine Hände beben noch immer. Ich balle sie zu Fäusten und zwinge sie damit zur Ruhe. Statt dass sich meine Aufregung weiter über meine Gliedmaßen entlädt, treibt sie mir nun dicke Tränen in die Augen. Ich blinzele, setzte ein gerührtes Lächeln auf und gebe mich dir ein letztes Mal hin.

„Ja du hast Recht. Es ist alles bestens“, antworte ich und Wehmut vereinnahmt plötzlich meine durcheinandergewürfelte Gefühlswelt.

„Wir kennen uns schon so lange“, sage ich erstickt und weitere Tränen bahnen sich einen Weg über meine geröteten Wangen.

„Ja, das stimmt. Und wir sind so viel mehr als einfach nur gute Freunde. Nicht wahr?“ Dein Grinsen verbreitert sich unaufhörlich und obwohl mir nicht zum Lachen zumute ist, kann ich nicht anders, als mitzumachen.

„Das ist wohl so. Dabei mochte ich dich zu Anfang gar nicht. Erinnerst du dich, wie wir uns das erste Mal begegnet sind? Es war im Kindergarten.“ Erst als ich es ausspreche, erinnere ich mich selbst daran. Ich wollte meine Spielsachen und Freunde nicht mit dir teilen, aber du warst schon immer unfassbar beharrlich und durchsetzungsstark. Insgeheim habe ich das bewundert und wollte genauso sein, wie du. Welch Ironie, wenn ich uns heute betrachte.

„Ja zunächst war unsere Freundschaft wohl eher flüchtig, aber mit der Zeit hast du gelernt mich zu lieben und wir wurden uns stets vertrauter.“ Du siehst mich unverwandt an. Ich beiße die Zähne zusammen, denn du hast Recht. Nur weiß ich jetzt, dass es der größte Fehler meines Lebens war. Ich versuche, deinem Blick auszuweichen, aber es gelingt mir natürlich nicht. Also spreche ich stattdessen weiter.

„Du hast Recht. Irgendwann hatten wir uns aneinander gewöhnt und es lief eigentlich alles sehr gut zwischen uns. Ich konnte mir ein Leben ohne dich gar nicht mehr vorstellen“, gebe ich leise zu. Ich halte inne und muss bei dem Gedanken an unsere guten Zeiten schmunzeln. Auch dir scheint diese Erinnerung zu gefallen.

„Oh ja. Es war so aufregend, als wir endlich alles miteinander teilten. Unsere Wohnung, unsere Arbeit, unsere Freunde“, strahlst du mir entgegen. Ich muss mich erneut am Waschbecken abstützen, als mir in diesem Moment ein prickelnder Schauer über den Rücken kriecht und sich mein gesamter Körper verkrampft.

„Ja, wir ließen nichts zwischen uns kommen“, presse ich hervor. Mein Kiefer hat sich so verbissen, dass ich kaum den Mund öffnen kann.

„Nein, das haben wir nie. Wir waren immer bereit alles dafür zu tun. So wie heute“, wieder will sich ein Grinsen auf deinem Gesicht ausbreiten. Aber diesmal lasse ich es nicht zu. Ich bleibe ernst und bringe endlich das zu Tage, was ich schon längst hätte aussprechen sollen.

„Du bist zu weit gegangen“, sage ich rau. Nun vergeht auch dir das Lachen. Deine Augen werden eng und dunkel, und spiegeln mein Innerstes wider. Du fängst an zu stottern, während du nach Worten suchst.

„Ich… Ich weiß nicht… was du meinst. Ich… Ich habe stets… in unserem Sinne und für uns gehandelt. Das… Das weißt du doch.“

Augenblicklich überkommt mich Mitgefühl, wie jedes Mal, wenn ich versuche, meine Sicht auf die Dinge durchzusetzen. Aber diesmal lasse ich mich nicht davon benebeln. Diesmal gewinne ich meinen inneren Kampf. Ich schlucke schwer, bevor ich antwortete.

„Ja, das weiß ich. Aber mittlerweile weiß ich auch, dass es zu viel war. Es war falsch, was wir getan haben und das weißt du auch. Wir sind zu weit gegangen“, ich korrigiere mich, „du bist zu weit gegangen.“

Die Atmosphäre im Raum ist auf einen Schlag mit einer bedrohlichen Anspannung geladen. Sie ist so präsent, dass man glaubt, sie mit bloßen Händen greifen zu können.

Ich habe es bereits vor einiger Zeit geahnt, doch erst jetzt, da es zu spät ist, habe ich den Mut zu Handeln. Der Schock, nachdem ich realisiert habe, was passiert ist, hat mich endgültig wach gerüttelt. In dem kurzen einsamen Moment am Waschbecken habe ich erkannt, was ich eigentlich schon lange wusste. Mein Leben und mein Handeln sind eine einzige Lüge. Obwohl ich es vermutet hatte, traf mich die Erkenntnis hart und riss mir in diesem Moment den Boden unter den Füßen weg. Alles was ich geglaubt habe zu sein, löste sich binnen dieser Sekunden unumstößlich in Luft auf.

Erneut steigen mir Tränen in die Augen. Sie bahnen sich ihren Weg und du wischst sie unwirsch weg.

„Ich bin zu weit gegangen? Das hat er dir eingeredet. Wir hätten viel früher handeln sollen. Ich wusste es, aber du hast nicht auf mich hören wollen. Ich habe dich gewarnt, dass er alles was wir haben, alles was wir sind, zerstören wird.“

Du willst dich abwenden und meinem Blick entziehen. Es fiel dir schon immer leichter, mich zu überzeugen, wenn du mir dabei nicht in die Augen sehen musstest. Doch heute lasse ich es nicht zu. Meine Finger krallen sich in den Beckenrand und ich starre dich weiter an.

„Er hatte Recht. Das weiß ich jetzt und du weißt es auch. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich es schon lange, aber ich wollte es nicht wahr haben. Aber jetzt – es war falsch. Er hat die Wahrheit gesagt. Das musst du akzep…“

„Ich muss es akzeptieren? Das kann ich nicht und du auch nicht. Das kann nicht dein Ernst sein“, schreist du mich an.

Ich weiche einen Schritt vor deiner Wut zurück. Jetzt bin ich es, die einen Augenblick wegsieht. Dann nehme ich all meinen Mut zusammen und versuche, mit überzeugender Stimme weiter zu sprechen.

„Doch. Es ist mein Ernst. Du musst – verschwinden. Wir dürfen nicht mehr miteinander reden. Es muss aufhören. Es ist meine einzige Chance neu anzufangen.“

Mit geweiteten Augen und offen stehendem Mund erwiderst du meinen Blick. Es dauert einen Moment, aber dann verändert sich dein Ausdruck blitzschnell. Anstelle der Fassungslosigkeit verkörperst du nun eine Überheblichkeit, die mir meine Magensäure in die Kehle treibt.

„Ich kann nicht verschwinden. Und das weißt du. Ohne mich bist du nichts“, spuckst du mir abfällig entgegen.

Ich versteinere bei diesen Worten. Habe ich erneut verloren?

Einige Minuten herrscht vollkommene Stille. Plötzlich klingelt es an der Tür und augenblicklich löst sich die Starre. Wir schielen gemeinsam zur Badezimmertür. Ich habe doch noch eine Chance.

„Wer ist das?“, fragst du mit bebender Stimme. „Wieso weiß ich nicht, wer das ist?“

„Weil ich es so will“, antworte ich ruhig. Hektisch senkt sich dein Blick. Ich spüre, wie die Erkenntnis dich vereinnahmt, als du das Smartphone im Waschbecken entdeckst.

Es klingelt erneut. Es ist so weit.

„Wieso tust du das?“, willst du wissen.

„Ohne dich bin ich frei. Das habe ich heute erkannt. Der Doktor hatte Recht. Das weiß ich jetzt. Du machst mich krank. Und das muss aufhören. Jetzt sofort. Es war falsch den Doktor zu töten. Du hast mich dazu gedrängt, weil du es schon lange erkannt hattest. Du hast gehofft ich würde es einfach hinnehmen, wie sonst auch, und wir würden einfach weiter machen wie bisher. Aber das hat nun ein Ende.“ Ich schaue vom Becken auf zurück in den Spiegel mir gegenüber und erwidere deinen durchdringenden Blick.

„Das sind die Männer vom Rettungsdienst und die Polizei. Ich werde ihnen alles erzählen. Ich werde in eine Klinik gehen und du wirst verschwinden, denn hier – hier bin nur ich. Dann bekomme ich eine zweite Chance. Ohne dich“, sage ich und schwöre mir, dass dies das letzte Mal sein wird, wo ich mit mir selbst spreche.

V3 – 9998