Von Ilona Pohl

Es ist eine heiße Sommernacht.

Ein Gewitter hat die Luft etwas abgekühlt und erfrischt. Es zieht schnell weiter und ich höre nur noch Donnergrollen und sehe das Zucken ferner Blitze. Der Regen, der eben noch gegen die Fenster prasselte, hat urplötzlich aufgehört.

Erleichtert reiße ich eins der fünf Fenster auf, das zu der halbrunden Fensterfront meines Wohnzimmers gehört und den Blick auf einen kleinen Park auf der anderen Straßenseite freigibt. Ich lehne mich hinaus und sauge begierig die Luft ein. Ein Gemisch aus Lindenblütenduft, feuchten Blättern und dem typischen Geruch, den Straßen einer Großstadt nach einem Sommerregen abgeben: ein wenig modrig, ölig, metallisch. Nach der wochenlangen Hitzewelle, in der ich tagsüber die Fenster und Balkontür geschlossen hielt und sie erst nachts für einen etwas abkühlenden Durchzug öffnete, spüre ich jetzt die erfrischende Luft prickelnd und belebend auf meiner Haut.

In diesem Moment bemerke ich eine Gruppe junger Leute, die sich gegenüber im Park um eine Bank versammelt, und ziehe mich erschrocken zurück, denn ich habe – so wie schon seit Wochen in der aufgeheizten Wohnung – nichts an. Ich lösche die kleine Stehleuchte und blicke im Dunkeln hinüber zu der Bank.

Lachen und Musikfetzen wehen herüber. Wummernde Taktschläge. Weinflaschen kreisen. Einige trinken aus Bierflaschen. Manche bewegen sich zu der Musik. „Mein Gott“, denke ich, und fange unwillkürlich an, meine Beine und Hüften im Rhythmus zu bewegen, „das sieht bei denen ganz schön steif und verklemmt aus!“

Erst jetzt fällt mir auf, dass es noch eine weitere Lichtquelle in meinem Wohnzimmer gibt, den Fensehbildschirm. Ton leisegestellt. Die Sängerin Sandra mit ihrem Hit „Maria Magdalena“ ist zu sehen. Ich stelle laut und beginne völlig mitgerissen zu tanzen. Nachdem ich den Ton noch lauter gestellt habe, tanze ich Richtung Küche, öffne den Kühlschrank und schenke mir aus der geöffneten Sektflasche ein Glas ein, tanze auf dem Rückweg ins Schlafzimmer, um mir mein Strandkleid überzuziehen, das über dem Stuhl hängt, und kehre ins Wohnzimmer zurück.

Die Sendung im Fernsehen ist offenbar ein Zusammenschnitt von Hits der achtziger Jahre. Der nächste Titel: Bonnie Tylor „Holding out for a Hero“ entfesselt mich völlig und ich tanze wild begeistert durchs Wohnzimmer, ab und zu an meinem Glas Sekt nippend. Einen Titel später, während die ganze Zeit meine nackten Füße in Schrittfolgen über die Holzdielen gleiten, wird mir bei Abbas „Gimme gimme gimme a Man after Midnight“ bewusst, womit ich diese beiden Lieder verbinde: Meine Suche damals wie heute nach dem einen Mann, dem Helden für eine Nacht und fürs Leben.

Ich tanze am offenen Fenster vorbei, gestikuliere mit schwingenden Armen und sehe plötzlich, wie gegenüber von der Bank aus jemand seine Arme im selben Rhythmus schwingt und dazu Schritte vollführt. Sieht gar nicht so schlecht aus! Ein junger Mann mit muskulösem, freien Oberkörper, der mir jetzt mit seinen winkenden Bewegungen zu verstehen gibt, ich solle zu ihm kommen.

Anscheinend kann er mich in meinem Wohnzimmer in der ersten Etage gut sehen und auch meine Musik durchs offene Fenster gut hören. Ich fühle mich ertappt und stelle den Fernseher leise. Dann schaue ich vorsichtig zu dem Park hinüber. Im Schein der Laterne sehe ich, dass der junge Mann allein an der Bank zurückgeblieben ist. Darauf stehen zwei Flaschen, über die er sich jetzt beugt. Nein, eine davon ist wohl eine Bluetooth-Box, denn auf einmal ertönt laute Musik: „Auf das, was da noch kommt“. Ich erkenne das Lied und fange wieder an zu tanzen. Der da unten tanzt auch, prostet mir mit seiner Bierflasche zu und winkt mich wieder mit einer ausholenden Schwingung des anderen Arms zu sich herunter.

Ich schlüpfe in meine Sandalen, fülle am Kühlschrank schnell noch einmal mein Sektglas in der linken Hand nach, schnappe im Flur mein Schlüsselbund mit der rechten, mit der ich auch die Wohnungstür zuknalle, und tänzle die Treppe hinab. Kaum habe ich die Haustüre aufgerissen, spüre ich einen belebenden Lufthauch und höre die Rhythmen des Liedes von Lotte und Max Giesinger.

„Auf das, was da noch kommt
Auf das, was da noch kommt
Auf Euphorie und alles Leichte
Hoff‘, das wird lange noch so bleiben für uns
Auf das, was da noch kommt“ weht zu mir herüber und drückt genau das aus, was ich gerade fühle. Ich bin frei, in Rente, muss nicht mehr arbeiten, kann endlich tun, wozu ich Lust habe, bin neugierig auf die Zukunft.

Im Sambaschritt tanze ich nach der Musik über die noch regennasse Straße, treffe auf meinen jungen Tänzer, der als Begrüßung mit seiner Bierflasche kurz an mein Sektglas kickt und beide, nachdem wir einen Schluck genommen haben, auf der Bank abstellt. Er nimmt kurz meine Hand und führt mich sozusagen auf die Tanzfläche, den mit Steinplatten gepflasterten Bereich um die Bank, wo wir unsere Tanzbewegungen von früher wieder aufnehmen und schnell feststellen, dass wir zwar getrennt, aber im absolut gleichen Rhythmus tanzen. Es macht uns Spaß, Schritte und Bewegungen zu erfinden, die der andere dann begeistert übernimmt.

So geht es bei „An guten Tagen“, „194 Länder“ und „Tu m‘appelles“ weiter. Wir wechseln die Position, kreisen umeinander, klatschen im Rhythmus, drehen uns, berühren uns mit den Händen, um dem anderen einen Impuls zu geben.

Gerade als wir „Lass uns leben wie ein Feuerwerk“ begeistert mitsingen, bricht eine andere Stimme aus einiger Entfernung zu uns durch: „Getränkeservice! Hier kommt Nachschub!“

Zwei männliche Gestalten nähern sich, werden vom Lichtkreis der Laterne erfasst. So kann ich erkennen, dass es zwei junge Männer im Alter meines Tänzers sind. Der eine hält in jeder Hand eine Weinflasche, die er jetzt hochhält wie kostbare Pokale. Dabei ruft er: „Geile GILF haste da!“ Der Pokal, den der andere hochhält, besteht aus einem Sixpack Bier. Er ist nur noch wenige Schritte von uns entfernt und prustet los: „Wo haste denn die Omi her?“

Der Zauber unseres Tanzes in der Nacht ist gebrochen. Mein Tänzer und ich stehen etwas erschöpft und schwitzend da und sehen uns das erste Mal richtig ins Gesicht. Während ich in einer klitzekleinen Schrecksekunde denke: ,Mein Gott, wie jung er ist, vielleicht Mitte zwanzig!‘, sehe ich sein Grinsen. „Hat Spaß gemacht, war echt cool!“

 „Ja, stimmt. Ich geh‘ dann mal.“

Ich will mein leeres Sektglas greifen, aber der Bierträger, der sich inzwischen eine Bierflasche am Verschluss einer anderen aufgemacht hat, ergreift grob meinen Arm und sagt mit derb ironischem Unterton: „Nö,nö,nö. Wir wolln dich jetzt auch so geil tanzen sehn. Am besten hier auf der Bank!“ Blitzschnell hat er seine Flasche abgestellt, mit beiden Händen meine Taille umfasst, mich hochgehoben und auf die Bank gestellt. Dabei rieche ich an seinem Atem, dass er schon einige Biere intus haben muss. Mir wird heiß und zugleich flau im Magen.

Der Weinträger, der eine der Flaschen aufgeschraubt und daraus getrunken hat, lässt ein wieherndes Lachen ertönen. „Jenau. Son richtich steilen Stripdance!“ Sein Lachen wird lauter. Auch der Bierträger lacht, greift mit seiner rechten Hand an mein linkes Knie und beginnt, den Saum meines Kleides hochzuschieben.

In diesem Moment schlägt mein Tänzer ihm den Arm weg. Ich springe von der Bank, will loslaufen, aber der Weinträger baut sich vor mir auf: „Hey, wohin so schnell? In die Gruft, oder wat?“

Dabei schubst er mich in die Richtung des Bierträgers, der mir wiederum seine Hand in den Rücken haut und mich zum Weinträger zurückschubst. „Hier haste! Die hat nich mal nen BH an, die hat heut noch was vor!“

Blitzschnell ist mein Tänzer zwischen die beiden getreten und schiebt mich geistesgegenwärtig aus der Schusslinie.

„Hört auf mit dem Scheiß!“ Die beiden schauen etwas verblüfft, zucken dann mit den Schultern und greifen wieder zu ihren Flaschen. Ich blicke kurz zu meinem Tänzer zurück, murmle „Danke. Tschüß.“ und laufe über die Straße zum Hauseingang. Meine Schritte sind nicht mehr tänzerisch, sondern sehen eher nach Flucht aus. Zum Rennen bin ich zu stolz. Beim Aufschließen der Haustür treffe ich nicht gleich das Schlüsselloch.

Im Dunkeln laufe ich hoch zu meiner Wohnung im ersten Stock. Meine Freude am Tanzen ist wie weggeblasen. Mit fahrigen Bewegungen öffne ich die Wohnungstür, schlage sie hinter mir zu und atme erleichtert auf. Ohne Licht zu machen schleiche ich mich ins Wohnzimmer und spähe aus zwei Metern Abstand durch das offen gebliebene Fenster zu den drei jungen Männern an der Bank gegenüber. Ich höre ihre laut diskutierenden Stimmen, kann aber nichts verstehen außer mehrmals „die Alte…“. Ein Gefühl von Trotz und Wut steigt in mir auf: Ja, für euch da drüben bin ich alt! Aber ich fühle mich jung, will mich genauso amüsieren wie ihr, tanzen, Spaß haben – vermutlich anders als ihr. Auf meine Weise!

Der Bildschirm des leise gestellten Fernsehers zeigt ABBA und den Titel „Dancing Queen“.  Ich drücke auf volle Lautstärke und singe lauthals mit:

„You are the dancing queen
Young and sweet
Only seventeen
Dancing queen…“

‚Genau‘, denke ich, ‚aber nicht nur seventeen, sondern auch seventy!“ Und während ich die Erniedrigung und Angst der letzten Stunde wegtanze, beschließe ich, eine Ü60-Party ins Leben zu rufen, ganz anders als die wenigen, die es dieser Art in der Stadt gibt.

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