Von Michael Voß

Harry nimmt eine Bierflasche aus dem Kühlschrank, da bimmelt das Handy.

„Abflussdienst Kaminski.“

„Egon hier. Ich weiß, dass Du schon Feierabend hast, aber kannst´e noch vorbeikommen? Hier steppt der Bär und jetzt ist auch noch das Damen-Klo dicht.“

Egon, Marktleiter einer Filiale eines Lebensmittel-Discounters, ist mit Harry im selben Wohnblock aufgewachsen. Harry stellt die Flasche zurück.

„Bin unterwegs.“

„Danke!“

 

Eine Viertelstunde später rollt der Rohrfrei-Transporter über den gut beleuchteten Parkplatz des Supermarktes. Harry parkt vor der Laderampe, nimmt den Werkzeugkoffer und klopft an das Rolltor.

„Nix Kundeneingang!“, tönt eine entnervte Frauenstimme von innen.

„Abflussdienst!“, ruft Harry vernehmlich.

Surrend fährt das Tor hoch. Eine südländisch aussehende Frau im T-Shirt der Ladenkette murmelt eine Entschuldigung.

Harry setzt seine OP-Maske auf.

„Schon gut. Egon Böhmer hat mich bestellt. Wo ist das Klo?“

Die Frau führt Harry durch das Lager in den Verkaufsraum und streckt den Arm aus.

„Siehst du Eingang? Gegenüber, hinter Obstgemüse, kleines Tür mit Schild privat.“

„Alles klar.“

Harry stiefelt los. Bei den Hygieneartikeln geht es nicht weiter. Ein etwa zweijähriges Mädchen liegt schreiend im Gang und trommelt mit den Fäusten auf den Boden. Seine hochschwangere Mutter versucht, es zu beruhigen.

„Bitte Mia, steh´ auf. Ich kann dich doch nicht mehr heben!“

„Darf ich?“, fragt Harry und hebt das verdutzte Kind in den Klappsitz des Einkaufswagens.

„Danke!“, seufzt die junge Frau und wischt sich den Schweiß von der Stirn.

Harry trifft Egon bei den SB-Backwaren.

„Gottseidank, dass du da bist! Vollmond und Tag vor dem langen Wochenende sind schon Stress genug. Und jetzt noch das Lokus! Aber was soll´s, komm´ mit.“

Unterwegs hebt Egon ein Paket Haferflocken vom Boden auf, stellt es ins Regal zurück und eilt weiter. Vor der Tür mit dem Schild „Privat“ hält er inne und holt einen Schlüssel hervor.

„Du bist wahrscheinlich einiges gewöhnt, aber …“

„Mach auf.“

Egon öffnet die Tür.

„Mach zu!“, stöhnt Harry, steckt den Schlüssel ein und eilt zum Transporter. Mit dem Wassersauger und der Motorspirale auf dem Rollwagen bahnt er sich erneut den Weg durch den gut besuchten Markt und betritt die Personaltoilette. Die Kloschüssel ist randvoll, braunes Wasser läuft über den Rand und steht fingerbreit auf dem Boden. Der Gestank ist unbeschreiblich. Harry bringt die Spirale an den Start. Nach dem dritten Durchgang läuft das Schmutzwasser gurgelnd ab. Harry steckt das Kabel des Wassersaugers ein, um den Boden von der Brühe zu befreien, da hört er ein Klirren aus dem Verkaufsraum und Egon, der lauthals zu fluchen beginnt. Harry geht nachsehen.

Die kleine Mia hat mit ihrem kurzen Ärmchen ein Glas eingemachte Kirschen im Regal erreicht. Jetzt liegt es zersplittert am Boden. Egon, der die Scherben einsammeln wollte, hat sich geschnitten.

„Es tut mir so leid!“, jammert Mias Mama.

„Kein Problem!“ presst Egon hervor: „Stellen sie den Wagen einfach nicht mehr so dicht an die Regale.“

„Geh dir den Finger verbinden, ich mach das hier weg“, sagt Harry.

Mit Kehrblech und Wischmopp aus dem Rohrfreibulli fängt er an, die Spuren des kleinen Unglücks zu beseitigen.

„Storno Kasse Zwei!“, schallt es durch den Markt.

„Komme!“, ruft Egon genervt von irgendwoher.

Kurz darauf ist er wieder da.

„Mülleimer sind draußen neben der Laderampe“, sagt er zu Harry, der sich mit dem vollbeladenden Kehrblech suchend umschaut.

„Ich will Bärchen-Wuast!“, quengelt ein Kind in der Nähe.

Das Handy des Marktleiters klingelt.

„Ja? Was? Unfall? Autobahn komplett gesperrt? Die Lieferung kommt erst morgen Mittag? Ey Leute, wisst ihr, was hier los ist? Seit vier Tagen kein Klopapier, Haferflocken sind aus und jetzt bleibt auch noch das Obst weg! Wir ham´ ´ne Stimmung hier wie, wie, ach, einfach Scheiße hier! Seht zu, dass ihr den Ersatzwagen schickt! Was? Der geht schon nach Düsseldorf? War ja klar, immer dahin, wo die Leute mit der Kohle sind! Was soll ich jetzt meinen Kunden sagen? Übermorgen? Ihr Armleuchter!“

Wütend drückt Egon das Gespräch weg und wendet sich Harry zu.

„Wie sieht´s mit dem Klo aus, Alter?“

Harry schließt die Tür auf und zeigt auf die braune Brühe am Boden.

„Sieht noch schlimm aus, aber der Abfluss läuft wieder. Gute halbe Stunde, dann hab ich hier alles sauber und du kannst ´nen Haken dranmachen.“

„Wenigstens auf dich ist Verlass“, seufzt Egon, da wird er von einem missmutigen Mann Mitte Dreißig angesprochen.

„Wo is Klopapier?“

„Tut mir leid, is aus. Und setzen Sie bitte eine Maske auf.“

„War ja klar, ihr Idioten packt es einfach nicht! Wo sind Kartoffeln?“, brummelt der Mann, auf dessen T-Shirt ein gelber Davidstern mit dem Schriftzug „ungeimpft“ prangt.

„He! Ich kann nix dafür, klar? Und wenn Sie jetzt bitte eine Maske aufsetzen würden?“

„Wennste meinst, ich unterwerfe mich der Corona-Diktatur, haste dich jeschnitten, Alter!“

„Entweder sie setzen eine Maske auf oder sie verlassen diesen Markt!“, ruft Egon entnervt.

„Halt´s Maul, System-Knecht! Ich kaufe hier ein, das ist mein Recht!“, geifert der Angesprochene.

„Ich will aber Bärchen-Wuast!“, schrillt die Kinderstimme in der Nähe.

„Ich rufe jetzt die Polizei“, sagt Egon entnervt und zückt sein Handy.

Der Mann schlägt Egon das Smartphone aus der Hand und verpasst ihm einen Faustschlag ins Gesicht.

„Volksverräter!“

In diesem Moment geht das Licht aus. Auch die Parkplatzleuchten und Straßenlaternen draußen verlöschen.

Stromausfall im Viertel, denkt Harry. Im Laden wird es jetzt richtig unruhig, Kinder fangen an zu schreien, aus einer Ecke knallt es, wieder splittert Glas. Die ersten Handys leuchten auf. Harry hilft Egon auf die Füße.

„Scheiße!“, flucht der Marktleiter.

Aus seiner Nase fließt Blut.

Krachend kippt ein Regal um, irgendwo stöhnt eine Frau. Im Eingangsbereich sammeln sich Leute und hämmern mit den Fäusten gegen die geschlossenen Glastüren.

„Wir wollen raus!“ und „Hilfe!“ schallt es durch den Laden.

„Ruhe Leute! Ohne Strom geht die Tür nicht auf“, ruft Egon erschöpft.

„Die Machtdemonstration des Polizeistaates. Lasst euch das nicht bieten!“, hört Harry den Maskenverweigerer neben sich rufen.

Die Kinderstimme kreischt durch den Geräuschteppich: „Ich WILL aber Bärchen-Wuast!“

Egon sackt zusammen. Harry fängt seinen Freund auf und legt ihn quer über die Auslage mit den Kartoffeln.

„Ruf doch mal einer die Feuerwehr an, mein Handy tut´s nicht!“, schreit eine Frau panisch.

„Geht nich, die Masten ha´m auch kein Strom!“, ruft irgendwer.

„Ich will nicht raus, ich will Bärchen-Wuast!“

Harry bahnt sich einen Weg zur Tür, sucht die Aluminium-Zarge ab und klipst eine Abdeckung heraus.

„Hört auf, gegen die Tür zu drücken“, sagt er vernehmlich: „Dann kriege ich das Ding auch auf.“

Ein bärtiger Mann wiederholt Harrys Worte sehr laut auf Deutsch und Türkisch. Eine resolute Frau sagt etwas in russischer Sprache. Tatsächlich rückt die Menge etwas von der Tür ab. Harry drückt auf eine Taste. Surrend fährt die Tür auf. Erleichtert strömen die Leute aus dem Geschäft. Ein vielleicht Vierjähriger hält sich mit der Linken an der Türzarge fest, die entnervte Mutter zerrt an seinem freien Arm.

„Erst Wuast!“, kreischt der Junge und tritt gegen die Tür.

„Was war das?“, fragt eine Kassiererin erstaunt.

„Die akkubetriebene Notentriegelung“, sagt Harry und hält dem Jungen sein Handy mit dem Bild einer überquellenden Toilette vors Gesicht. Erstaunt lässt das Kind die Tür los. „Aber wer ruft da eigentlich die ganze Zeit um Hilfe?“

 

Mias Mutter sitzt verzweifelt in einer Pfütze vor dem Konservenregal.

„Die Fruchtblase ist geplatzt!“, weint sie.

Harry flucht.

Er wendet sich an den Bärtigen, der ihm gefolgt ist.

„Hilf´ mir, sie in meinen Wagen zu tragen. Dann fahre ich sie ins Krankenhaus.“

Der Mann schüttelt den Kopf.

„Die Ampeln sind aus, alles steckt fest. Da geht nix mehr. Ich hole meine Frau, meine Schwägerin und unsere Nichte. Wir wohnen gegenüber.“

Er verschwindet.

Harry kommt sich hilflos vor. Er hebt die weinende Mia aus dem Einkaufswagen und drückt sie einer unschlüssig zusehenden Frau in die Arme.

„Verdammt noch mal, kümmer´ sich doch mal wer um die Frau, ich kann sowas nicht!“, blafft er die Umstehenden an. „Ich hole Zeugs und so!“

Irgendjemand kniet sich hinter Mias Mama und stützt ihr den Rücken. Harry geht  zum Transporter. Als er, beladen mit Plane, Decke, Verbandszeug und Akku-Bauscheinwerfer zurückkommt, hängt die junge Mutter schon hechelnd in den Armen einer stämmigen Frau mit Kopftuch. Ein dunkeläugiges Mädchen nimmt ihm freudestrahlend die Sachen ab.

 

Harry, froh, dem provisorischen Kreißsaal entkommen zu sein, sucht Egon. Der Marktleiter sitzt auf den Kartoffeln, ein blutiges Taschentuch in der Hand.

„Hab´s schon gehört, mit der Tür und so. Danke Harry.“

„Kein Ding, Egon.“

„Wo ist eigentlich der Widerstandskämpfer?“, fragt Egon missmutig.

Harry schließt die Tür zum Personal-WC auf und leuchtet mit dem Handylicht hinein.

Aus dem Dunkel taucht eine dreckbeschmierte Gestalt in nassen, stinkenden Sachen auf.

„Das wird ein Nachspiel haben!“, brüllt der Mann: „Ich zeig´ euch an, ihr Schweine!“

„Warum? Weil wir Masken tragen?“, fragt Harry interessiert.

„Weil ihr mich in die Scheiße geschmissen und eingesperrt habt!“

„Wovon redet der?“, fragt Egon.

„Keine Ahnung“, meint Harry. „Muss wohl im Dunkeln gestolpert sein.“

Wutschnaubend verlässt der Maskenverweigerer den Markt. Aus dem Konservenbereich hört man den Schrei eines Neugeborenen.

Egon lächelt schwach: „Komm, Harry, wir gratulieren. Mit etwas Glück steht das Sektregal noch.“

 

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