Von Andrea Gebert

Seit fast zwei Stunden steht Yannick in der Ankunftshalle des Frankfurter Flughafens, konzentriert, keinen einzelnen der Ankommenden, den die gläserne Schiebetür ausspuckt, zu verpassen. Das Schild mit der Aufschrift „von Lühmann“ wandert von einer Hand in die andere, immer in Augenhöhe, damit es lesbar bleibt. Dabei beschäftigt ihn unablässig die Frage, wie er dem zu Erwartenden begegnen soll.

„Du holst ihn ab, besuchst mit ihm das Grab, ich händige ihm das Vermächtnis aus und dann kannst du ihn mitnehmen“ hat seine  Mutter, pragmatisch wie immer, verfügt. 

Der junge Mann mit dem dunklen, lockigen Haar, der der Warterei  schließlich ein Ende bereitet, hat eine fast schon frappierende Ähnlichkeit mit seinem  Vater. Yannick saugt Luft in die  Lücke zwischen seinen oberen Schneidezähnen an und stößt sie mit einem kleinen Pfeifton wieder aus, eine Angewohnheit, die ihn beruhigt.  Als er sich wieder fasst, findet er sich in einer Umarmung mit dem Fremden wieder. Unwillig schüttelt er dessen Arme ab, bückt sich nach dem Koffer des Besuchers und zeigt zum Ausgang. 

Während sie den Mietwagen abholen, erklärt er ihm die Pläne der Mutter.

Dass er einen Halbbruder hat, der  Christian heißt und zwölf Jahre jünger ist, hat sein Vater ihm erst auf dem Sterbebett eröffnet. Noch rechtzeitig, um Fragen zu stellen, doch zu spät, um darauf eine Antwort zu erhalten.

Er hatte seinen Vater, der als Spezialist für Gasturbinen weltweit unterwegs war, in der Kindheit eher als Zaungast wahrgenommen. Panama, Mexiko, Kuba, Argentinien, er konnte sich die Länder nur merken, weil der Vater an die bunten Souvenirs, die er mitbrachte, kleine Wimpel mit den jeweiligen Ländernamen, gehängt hatte. Es gab wohl eine Zeit, in der er fast ausschließlich von Kuba berichtete, aber da war Yannick schon fast zu groß, um sich für seinen Vater zu interessieren. 

Den Aussagen seiner Mutter zufolge sollte die Affäre mit Yudanis  immerhin fast zwei Jahre gegangen sein. „Dein Vater war so blauäugig, dass er geglaubt hat, sie liebt ihn und das bei einem Altersunterschied von vierunddreißig Jahren. Sie hat geschworen, nie Unterhalt zu verlangen, alles was sie wolle, wäre ein Kind von ihm, damit sie ihn für immer bei sich hätte.“ Seine Mutter hatte ihr hartes, kurzes Lachen gelacht, eine Art Stakkato, dass Yannick nie ganz geheuer gewesen war.    

Er stellt das Auto vor dem Waldfriedhof von Bad Hersfeld ab und hört den  Regentropfen zu, die aufs Wagendach platschen. Sein Halbbruder schläft tief und fest.

Einmal mehr ärgert er sich über seinen Vater, dessen letzter Wunsch es war, dass sich die Brüder kennenlernen sollten und den die Mutter nun eloquent durchsetzt.

Er weiß nicht ob seine Eltern eine glückliche Beziehung geführt haben, eigentlich kennt er sie kaum. Der Vater war von einer herzlichen Großzügigkeit, die seiner Besucherrolle entsprochen hatte, gewesen, die Mutter norddeutsch kühl und beherrscht. 

Er holt einen Schirm aus dem Kofferraum und weckt Christian.

„Du musst mir alles über ihn erzählen, was du weißt“, sagt sein Halbbruder, während sie dichter, als ihm lieb ist, nebeneinander auf dem matschigen Weg zum Grab laufen. Wieder einmal spürt Yannick ein Unbehagen vor dem pompösen Granitstein mit den zum Himmel gefalteten Händen. 

Danach geht es weiter nach Bad Hersfeld. Seine Mutter, die nun allein in der herrschaftlichen Villa residiert, hat Coq au vin  gemacht und im Esszimmer gedeckt, sogar das gute Goldrandporzellan ist zum Einsatz gekommen. Sie zeigt keine Regung als sie     Christian das Vermächtnis überreicht ( ihr Mann hat ihn mit siebzigtausend Euro bedacht), allein am Zucken ihres linken Mundwinkels kann Yannick ablesen, dass sie nicht so ruhig ist, wie sie tut. „Soviel Geld!“ Sein Halbbruder starrt mit offenem Mund auf die Zahl, dann springt er auf. „Ich bin reich, ich bin reich.“ Mit zur Decke gereckten Armen dreht er sich wieder und wieder um die eigene Achse. „Ich muss zu Hause anrufen“, er läuft aus dem Haus und verschwindet im Garten.     

Es ist fast Mittag als sie am nächsten Tag aufbrechen. Christian hat sich stundenlang in Vaters Arbeitszimmer und der angrenzenden Bibliothek umgesehen, hat unermüdlich Fragen gestellt und ist nach einem frühen Abendessen im Gästezimmer verschwunden.  

Yannick ist froh über die späte Abfahrt, ihm ist nicht wohl bei dem Gedanken die nächsten fünf Tage mit jemandem verbringen zu müssen, den er kaum kennt  und vielleicht auch nicht unbedingt kennenlernen will. Obwohl dieser Christian ein ganz netter Typ zu sein scheint.

Zweieinhalb Stunden später, sie sind kurz vor Leipzig, weiß Yannick, dass sein Halbbruder Medizin  studieren will, um danach in Kuba zu praktizieren, weil viele der kubanischen Ärzte nach Venezuela abgewandert sind. Er weiß, dass Christian Angst vorm Wasser hat, obwohl er auf einer Insel geboren ist und er weiß ebenso, dass sein Halbbruder noch nie eine Freundin hatte. Außerdem hat er von gefühlt hunderttausend Ideen erfahren, was mit dem neuerworbenen Reichtum möglich sei.

 

 

 „Cool!  Christian sitzt auf einem der drei Drehhocker vor dem Küchenthresen, eine Cola in der Hand und scannt die Einrichtung. Yannick, der dabei ist, sich als Architekt in Leipzig zu etablieren, hat bewusst auf Türen verzichtet. Die Wohnung besteht aus einem

einzigen großen Raum mit Nischen zum Schlafen, Ankleiden und Kochen.

„Du kannst in meinem Bett schlafen, ich nehme das Sofa.“

„Allein auf dieser Liegewiese!  Ich vertreibe dich doch nicht aus deinem Bett. In einem Ding dieser Größe schlafen in Kuba bis zu fünf Personen.“

„Wie du willst, von mir aus.“

„Ich schlage vor, dass wir uns für heute Abend etwas zum Essen bestellen. Mein Kühlschrank ist fast leer.“

„Wir können einkaufen gehen. Ich könnte uns etwas kochen. Du musst mir nur sagen, was du möchtest.“

„Okay, dann überrasch mich einfach. Ich esse alles außer Innereien und rohem Fisch.“

Obwohl ihn die Idee, noch einmal los zu müssen, nervt, stimmt er zu.

Sein Halbbruder ist überwältigt als er die vollen Regale im Supermarkt sieht. Fasziniert vom Überangebot der Waren läuft er durch die bunte Konsumwelt. Greift da nach einer Packung und dort nach einer Dose. Bekommt rote Flecken auf den Wangen und leuchtende Augen.

„Maniok! Wir brauchen Maniok, Kochbananen, schwarze Bohnen und Huhn.“ 

Yannick lacht. „Hier gibt’s zwar hunderttausend Sachen, aber das nun gerade nicht.“

Als sie dann endlich essen, Christian hat sich alternativ für grüne Bohnen, Mais und Paprika entschieden, läuft im ZDF bereits das zweite Heute-Journal.

„Schmeckt, oder?“, fragt er, während er Yannick ungefragt nachlegt.

Das ungewohnt späte Essen beschert Yannick eine unruhige Nacht. Er lauscht den gleichmäßigen Atemzügen seines Halbbruders auf der anderen Bettseite, der ihm vor dem Einschlafen noch erklärt hat, am nächsten Tag Ceviche machen zu wollen, die zwar aus rohem Fisch besteht, aber ganz und gar nicht so schmeckt.

Sightseeingtour durch Leipzig: Sie besuchen das Völkerschlachtdenkmal, besichtigen Thomas- und Nikolaikirche, essen Mittag in Auerbachs-Keller, spazieren durch den Zoo und lassen sich auf ein Bier im Barfussgässchen nieder. Das Zusammensein mit Christian entspannt Yannick. Er registriert es mit Erstaunen. Das erste Mal seit der Trennung von Max versucht er nicht zwanghaft locker zu sein, er ist es einfach. Dieser junge Mann an seiner Seite ist ein Zauberer, denn wie sonst sollte ihm gelingen, was die Therapie bisher nicht gebracht hat.

 

„Paddelwetter!“ Yannick zeigt auf den blauen Himmel. Christian öffnet die Terrassentür.

„Viel zu kalt!“ „Dann zieh eben meine Fleecejacke über!“

Der junge Mann, der ihm nun nicht mehr fremd ist, sitzt vor ihm, kraftvoll und gleichmäßig rudernd. Auf dem dunklen Haarschopf tanzt das Sonnenlicht, ab und zu rinnt ein Schweißtropfen den Nacken hinab und Yannick ertappt sich bei dem Gedanken, diesen berühren zu wollen.

Sie reden nicht mehr viel über ihren gemeinsamen Vater.

Viel mehr erzählen sie sich aus der Kindheit, Yannick schmückt seine mit ein paar erfundenen Begebenheiten aus, damit er nicht so farblos scheint neben Christians  teilweise exotischen Berichten. 

„Schwimmen wie in der Karibik“ verspricht das Schild am Badestrand des Cospudener Sees, da wo früher die Tagebaulöcher gähnten und tatsächlich ist das Wasser türkisblau.

Christian rennt ins Wasser und ebenso schnell zurück. „Viel zu kalt!“ Yannick hält ihm das Badetuch hin. „Du musst mich trockenreiben, sonst erfriere ich!“ Der Frottee glüht in Yannicks Händen. „Na los, mach schon!“ Yannicks Mund wird trocken. Der Stoff zwischen seinen Händen und Christians Körper  ist viel zu dünn. 

Die „Kennenlerntage“ verfliegen, nur einen Abend noch und eine Nacht.

Mitten im Spiel, Yannick hat Fussballkarten versorgt( RB Leipzig gegen Hertha), weil er sich sicher ist, dass alle Latinos Fussball lieben und Leipzig hat gerade einen Elfmeter verschossen, wird ihm klar, dass er sich ein Eigentor geschossen hat.

Nach der, für den letzten Abend versprochenen, Ceviche, die Yannick nicht nur nicht schmeckt, weil sie aus rohem Fisch besteht, trinken sie reichlich Mojito.

Yannicks Einsilbigkeit scheint Christian nicht aufzufallen, er schwärmt ausgelassen von den letzten Tagen. Als sie weit nach Mitternacht schlafen gehen, rückt Yannick an die äußerste Bettkante. 

 

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Als sechs Wochen später ein Anwaltsbrief bei seiner Mutter eintrifft, in dem sein Halbbruder Erbansprüche stellt, ist er froh, sich vor einer neuen Enttäuschung bewahrt zu haben.

 

 

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