Von Clara Sinn

Sie musste nicht

aufstehen.

Es war der Erste, es war das Datum, dem sie so entgegengefiebert hatte. Sie hatte gut geschlafen, es war herrliches Wetter. Und sie hatte nichts im Haus. Zu beißen.

Sie musste nicht aus dem Bett! Musste nie mehr zwangsweise aus dem Bett.

Wie sie es ein Leben lang getan hatte, wie sie traumatisiert wurde, es zu tun. Wie sie es nie gewollt hatte. Und niemand Rücksicht darauf genommen hatte.
Bis jetzt.

Sie erinnerte sich, womit man sie alles aus dem Bett gelockt hatte als Kind.

Ihre Oma hatte sie jeden Morgen massiert, den kleinen Rücken mit den aufgewärmten Händen, manchmal auch mit dem Massageboy der Tante mit den Rollen. Oder ihr Vater sich hinstellte vor ihr Bett, ihr vorzusingen. „Auf, auf ihr Reichsgenossen“. Oder Mama und Opa abwechelnd versuchten, sie zu trösten, wenn es an dieses Leid ging, sich zu erheben. Wenn es unendlich viel schöner gewesen wäre, einfach nur liegen. Bleiben zu können. In den warmen Federn.

„Nur noch“, in dem Fall, “ zwei Tage, dann kannst du wieder gaaanz laange ausschlafen.“ Dann hatte der Kindergarten wieder Mittagsschicht. Das wechselte. Jede Woche.

Was für ein Lebenstrauma, aus dem gesündesten Schlummer gerissen zu werden, um wider Natur und Willen aufstehen zu sollen. Um zu funktionieren.
Bis heute.

Endlich war ihr Leben erfolgreich aus den Fugen geraten. Hatte sie es aufgegeben. Alles im Griff zu haben.
Im Würgegriff zu haben.

Ihr ganzes Leben hatte sie. Traumaoptimiert.
Verbracht.

War jedem Job hinterhergezogen. Um keine Anfahrt zu haben. Hatte sich immer eine fußläufige Wohnung genommen. Oder fußläufige Arbeitsstelle.

Sieben Minuten.

Neun Minuten.

War der gleitende Arbeitsbeginn spätestens um neun, reichte es halb neun dicke. Benommen aus dem Bett zu fallen und ins Bad zu torkeln. Bei einer Minikatzenwäsche herumzutrödeln, bis sich die Tagesfreude, dies eigene Einverstandensein, den Tag zu beginnen, hinreichend einstellte. Sie sich mit Lust, schwupps, in erstbeste schöne Kleider warf und ebensolche schicke Schuhe.

Dann nur noch, hopps, ein Sprung rüber zum Schreibtisch. Stets mit einem herrlichen Schlenker über die Kantine, das luxuriöseste, „mit allem komplett“ belegte Croissant zu holen. Mit ihrem Lieblingsriegel dazu oder auch einem Eiselchen.

Wie oft hatte sie in Meetings in ihr Lieblingsdessert am Stiel gebissen. Oder einem Eisbecher gelöffelt. Wer setzte aber auch Meetings vor elf Uhr an?

Wie wohl sie sich gefühlt hatte. Mit ihrer Riesenkaffeetasse im Schlepptau. Aus englischem Feinporzellan. Mit dem denkbar erhebendsten Blumendekor.

Sie mochte das Enfant terrible der Firma sein, sie achtete ihrer Bedürfnisse.

Später hatte sie sich ausbedungen, spätestens halb zwei im Büro zu sein. Die einzige mit einem Arbeitszeitkonto im ganzen Betrieb. Ab sechs konnte es losgehen. Sie dachte da an gar etliche der Kollegen. Für die war alles nach halb acht schon „Mahlzeit“. Im Sommer, wenn die Hitzewellen regierten und es erlaubt war, eine halbe Stunde früher zu kommen, waren sie um halb sechs da. Und um zwei weg.

Sie hatten einfach keine Lust. Zu arbeiten. Kein Interesse. Ihr Leben so einzurichten, dass sie Lust darauf hätten haben können.

Ihr Chef hatte zugestimmt, dass sie fünf Coachingstunden bekommen sollte. Ihren Selbstausdruck zu reflektieren. Wie könne man so heiter sein und sich bei so gefährlich wichtigsten Exceltabellen Lachanfälle leisten?

Aber es war auch absurd. Wie alle ihre Köpfe tief in die Laptopbildschirme senkten und angespannt einhackten auf irgendwelche Tasten. Oder verbissen umhersausten mit der Maus. Kaum vernehmlich Wutflüche ausstießen. Etwa nach einem Telefonat. Oder auch beim gleich ersten halben Klingelton. Einer eingehenden Mail.

Das Coaching wurde nach drei Sitzungen abgebrochen, sie hatte keinen Dachschaden. Sie sollte nur, wenn sie ihrem Ausdruck derart freien Lauf ließ, die anderen im Großraumbüro aufklären. An welche irre Filmsequenz sie unwillkürlich dachte, welcher alberne Witz ihr spontan einfiel oder auch welche eigene Panne sie grade mit berstendem Humor nahm.

Sie behandelte sich freundlich. Ergeben, dienstbar, verwöhnend. Pfleglich.

Nein, es interessierte sie nicht, was sie inhaltlich tat, es ging sowieso nur ums Geschäft. Zwar ein moralisch integeres. Dabei aber doch um die Jagd. Nach dem größten Stück vom Kuchen, der Marktführerschaft, Deutungshoheit.

Wenn sie auf dem Sterbebett ein letztes Mal bilanzieren sollte, würde sie in Punkto Büro ihrem Lebenswandel zustimmen. Nicht, was ihre Arbeit war, sondern was sie daraus gemacht hatte. Bejahendste, unterstützendste Zugewandheit. Zu dieser geliebten Person. Die sie sich war.

Auch bei nur einjährigen Verträgen, war sie spätestens im zweiten Monat umgezogen. Und vorher stets per ICE gefahren. Er hatte die viel günstigeren Abfahrtzeiten als jeder Regionalexpress. Und Ankunftzeiten natürlich.

Hatte, bervor sie in den Zug stieg, oft einen runden Zwanziger ausgegeben. Hier ein frisch gepresster Saft mit hübsch belegtem Brötchen, dort eine irgend ansprechende Süßigkeit. Und natürlich der Zuschlagspreis. Für den Schnellzugkomfort.

Hatte sich durchaus über ihre Männer gewundert. M. zum Beispiel.

Er kam morgens noch weit viel schwerer aus dem Bett als sie. Wäre nie darauf gekommen, sein Leben umzustellen. Hatte 32 Jahre in diesem Laden gearbeitet. Und sich jeden einzelnen Morgen aufgequält. Statt etwas daran zu ändern. Sich die anderthalb Stunden Fahrt morgens zu sparen. Notfalls in Teilzeit zu gehen. Ab zehn statt acht. Überhaupt sich Gutes zu tun. Alles „wegen’m Geld“. Am Ende hatte er 600.000 verloren. Bei dem IT-Crash. Damals.

Es blieb ihr ein Rätsel, wieso sie sich das Leben nicht liebenswert machten. Als Streicheleinheit ausstatteten. Zärtlichkeitsdosis.

Er sagte,  er sei glücklich mit seinem Job. Sie jedoch hatte es jeden einzelnen Morgen, an dem sie bei ihm geblieben war, in Vollendung erlebt. Wie er sich vergewaltigen musste. Um aus dem Bett zu kriechen. Mehr oder weniger.

Wie es Atmosphäre und Gestimmtheit gründlich vergiftete. Brutaler Wecker, Schulddräuen, Pflichtverdammnis. Sie konnte den inneren Feldzug, der die ganze Atemluft erfüllte, förmlich mit Händen greifen. Abwehrfertig.

Sie hatte alles

getan.

Ihr Trauma erwies sich als schwarzes Loch. Das, zack, alles auch schon sofort verschluckt hatte. Keine Bequemlichkeit genug.

Immer noch. Dies gnadenlose Gehetztsein. Ausgleichen. Zu müssen. Auf Leben und Tod.

Musste an diesen Gärtner denken, der sich frei zu seinen Wunden bekannte: Meine Instinkte regierten mich. Dann meine Gegeninstinkte.

Auch bei ihr hatte längst automatischer Reflex das Sagen.

Aufstehen! Scheiße. Liegenbleiben!! Gegenteilige. Scheiße.

Bis sie an diesem Morgen das gesamte Scheißsystem zu Fall brachte. Das so perfekt geratene.

Aus Versehen.

Aber ein Gutes hatten die Coachings doch. Neben all dem Unsinn, „ab der Glastüre“ nur noch Rollenpersönlichkeit und das Leben dafür auszusetzen. Sie hatte aufmalen müssen, in wieweit sie ich in Deckungsgleichheit sah. Mit ihrer derzeitigen Tätigkeit.

Wovon sie ihrem Chef beim zufällig gemeinsamen Aufzugfahren Bericht erstattete. Einschließlich ihrer Begeisterung. Ob der Aussichten. „Jetzt liegt meine Arbeit bei 98 Prozent.“ Gemeint war der Anteil am Lebensglück.

Wobei der Tonfall mutmaßlich keinen Zweifel daran ließ, dass sie in unbedingt jedem Fall die 100 erstrebte.

Ihr Chef nickte ein ganzes Weilchen stumm. Richtung Fahrstuhlboden.

Bevor er eine Antwort gewährte. Kurz vor dem Ankommen. In der Tiefgarage.

„Würd ich mir für mich selbst auch wünschen.“

Er hatte zu ihr gestanden. Obwohl er fürwahr einiges durchzustehen hatte. Ihretwegen. „Für sowas“, parierte er problemlos, „bin ich als Chef da“.

Er hatte ein behindertes Kind.

 

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