Von Sabine Esser

„Nicht doch Kindchen! Da bin ich nicht drin und der geliebte Gatte auch nicht. Die Sarkophage hier sind alle leer. Diesen habe immerhin ich in Auftrag gegeben. Der Skulpteur war gnädig mit meinen Pfunden und Jahren. Nie wieder Juno, jetzt bin ich Henris Venus – und nicht Diana! Und schon gar nicht mehr muss ich mich im Hintergrund halten, weil ich nicht so schön bin wie sie! Er war mein König, auch wenn er nicht wollte und von ihr in mein Bett gebeten werden musste. Jetzt bleibt er mein Gatte in Ewigkeit, ob er will oder nicht“, kichert eine dünne Stimme.

 

Ich wackele an dem Kopfhörer mit den deutschsprachigen Erklärungen. Daran liegt es nicht. Im linken Ohr höre ich:

„Sie befinden sich vor dem Grabmal von Heinrich II von Valois, König von Frankreich 1457 bis 10. Juli 1559 und seiner Gemahlin, Katharina von Medici, gestorben 5. Januar 1589“ und im rechten Ohr:

„Geh‘ in die Krypta! Nur eine lange Liste zusammengeworfener Knochen wirst du finden!“

 

Mir ist unheimlich, ich will nach draußen.

„Das wirst du nicht tun!“, befiehlt die Stimme. Sie kann Gedanken lesen! „Los jetzt! In die Krypta!“

Widerstrebend verlasse ich das helle Hauptschiff der Kathedrale. Kaum entdecke ich die schwarzen Marmortafeln mit den vielen Namen, schmeichelt sie: „Du hast Wein dabei, stimmts? Bestreiche meinen Namen damit.“

Ich kann doch nicht in einer Kathedrale eine Flasche Wein öffnen!

„Doch, und zwar sogleich.“

Den Ton kenne ich schon. Ich gehorche und bin heilfroh, dass es nur ein Schraubverschluss ist. Ein Korkenplopp in dieser Umgebung – undenkbar!

 

„Ah, das tut gut. Am Abendmahl ist eben doch was dran. Wiederauferstehung des Fleisches. Völlig egal, ob katholisch oder protestantisch. Wein, Brot und Oliven sind älter als Rom oder Genf. Sie allein sind ewig.“ Gleich darauf: „Nimm‘ das Ding von Deinem Kopf! Du sollst zuhören!“

Wie volltönend ihre Stimme jetzt ist.

 

„Hier bin ich, Kindchen.“ Sie winkt mich in eine kaum beleuchtete Ecke des tiefen Gewölbes. Vermutlich sieht sie mich besser als ich sie: Eine alte, dicke Frau mit verquollenen, dunklen Augen. Ihr Doppelkinn erahne ich nur. Lange mustert sie mich. Ich mag ihren Blick nicht.

 

„So schön und so jung – was willst du hier, meine Kleine? Mich besucht doch sonst niemand.“

„Im Reiseführer steht, dass in St. Denis die Gebeine der französischen Könige ruhen.“

„Ru-hen?“, äfft sie mich nach. „So kann man es auch nennen. Erst haben sie uns aus den Sarkophagen gerissen, beraubt und in ein Massengrab geworfen, später wieder eingesammelt, und jetzt haben wir das Durcheinander hier unten. Könige? Ich, ich war eine Königin, ich verdiene diesen Namen, mein Schwiegervater und der Filou von Schwiegersohn auch. Der Rest nach uns? Schwer verdientes Geld ausgeben, das konnten sie. Die Revolution war vorhersehbar. Den jämmerlichen Einzelteilen hier hat ihr Gottesgnadentum auch nichts genützt. Machiavelli ist besser als Gottvertrauen.“

 

Ich bin überrascht, wie informiert die alte Königin ist.

Sie zwinkert amüsiert, neigt sich vor und raunt mir vertraulich zu:

„Ich hatte einen höchst organisierten, sehr speziellen Geheimdienst: Meine überaus zuvorkommenden Damen. Glaubst du etwa, ich hätte am päpstlichen Hof nichts gelernt? Als Medici? Wer hat denn, ganz allein, angefeindet von allen Seiten und verleumdet als Giftmischerin und florentinische Verräterin, das Land zusammengehalten in all‘ den Jahren? Meine Söhne waren ja entweder krank oder unfähig!“

 

Sie holt kurz Luft und wird laut: „Und als wär’s nicht genug, Elisabeth für ihr England, Philipp für sein Spanien, die Habsburger für ihr Reich und ich gegen alle, den eigenen Adel, die eigene Familie. Jeder gegen jeden und alle gegen mich. Sie wird geehrt und ich verfemt. Ist das gerecht?“

 

Ihre Stimme ist unangenehm schrill jetzt. Ich bin eingeschüchtert und verwirrt. Ohne Katharina hätte Philipp … oder hätte Elisabeth … oder hätten die deutschen Kaiser … und alle zusammen wie Hyänen?

 

„Genau so, Kindchen. Ich müsste ‚die Große‘ heißen. Ich, und nur ich habe Philipp verhindert und hingehalten. All‘ meine Probleme hat er gewollt und finanziert, hatte ja das Gold aus Amerika. Ein Scheinheiliger, wie er im Buche steht!“

 

Die schwarzen Augen funkeln wütend, und hasserfüllt zischt sie: „Jetzt liegt er intakt, allerkatholischst, aber syphilitisch in seinem Grill von Escorial. Möge er rösten wie der heilige Laurentius! Da ziehe ich meinen Zustand entschieden vor! Meine liebste Tochter gab ich ihm, damit er Ruhe gibt. Ihren Tod habe ich nie verwunden. Sie war mir so nah. Ach, jedes Kind, das ich verlor …“

 

Ich höre Katharina atmen, seufzen und weinen. Sie scheint im Dunkel der Nische zu verschwinden. Sehr müde fordert sie mich endlich auf, die Schrift erneut zu bestreichen. Ihr Elend bedrückt mich. Mühsam reißt sie sich zusammen: „Weißt du, Elisabeth hatte den großen Vorteil, dass sie nie geboren hat und nie den Tod eines Kindes beweinen musste. Ich bin zehn Mal niedergekommen und musste acht Mal trauern. Neun Mal, wenn du den Ehebrecher neben mir mitrechnest. Kinder sollten nach ihren Eltern sterben. Aber ich bin Königin, ich musste stark bleiben – vor allem gegen Philipp.“

 

Sie verschluckt sich fast vor Schadenfreude und hüstelt: „Er hat sie unterschätzt! Und wie! Sie hat seine ach so grandiose Armada erledigt. Komplett! Dabei war sie finanziell genauso klamm wie ich, bis sie auf Kaperfahrt ging. Meine Güte! Die schreckte vor gar nichts zurück: Piraten hat sie geadelt und die Hälfte vom Gewinn kassiert. Das hätte meine Idee sein sollen!“

 

Was für ein fieses Lachen Katharina hat. Überaus freundlich fährt sie fort: „Du verstehst das natürlich nicht, bist ja auch sehr jung. Ich jedenjalls habe sie – trotz ihrer protestantischen Intrigen – wirklich gemocht und immer viel zu gut verstanden. Sie mich aber auch. Dass sie meine schöne, arrogante Schwiegertochter Stuart hat köpfen lassen? Staatsraison. Hochverrat. Recht hatte sie. Wenn es um das Land geht, darf man nicht zimperlich sein. Hätte ich liebend gern mit Coligny gemacht.“

 

Unwillkürlich denke ich an die Bartholomäusnacht. Sie schweigt und schweigt. Ihre Augen sind blicklos. Mich fröstelt, erstickende Trauer und Wut füllen den Raum. Es reicht. Ich will hier raus! Bleibe trotzdem.

 

Die schweren, dicken Säulen unter der Kathedrale vervielfachen ihren Schrei: „Ja, glaubst du denn, ich hätte meine Tochter, meinen Schwiegersohn, meine Söhne, uns alle willentlich in Gefahr gebracht? Immer und immer wieder habe ich versucht, diese radikalen Katholiken und Hugenotten zu befrieden! Gewissensfreiheit, Glaubensfreiheit, sogar befriedete Orte habe ich ihnen noch und nöcher zugestanden! Aber sie wollten mehr und mehr. Meine schönste Tochter gab ich dem Navarra. EIN Königreich mit ZWEI Religionen! Warum sollte das nicht möglich sein? Aber alle wollten nur die Krone! Ich hatte kein Geld, keine Armee, nur ein zerstrittenes, fremdbestimmtes Land. Nie gab es Ruhe.“

 

Im Gewölbe hallt ihr gellendes Lachen: „Allerchristlichste und allerkatholischste Herrscher! Gesegnet vom größten Strippenzieher überhaupt, dem Stellvertreter Gottes! Was für eine Farce! Wer weiß das besser als ich!“

 

Sie will mich hypnotisieren! Ihre schwarzen Augen bohren sich in die meinen und sie flüstert: „Es geht immer um Macht. Fanatismus für die Dummen, Gewinn für die Klugen. Wenn man Schuld auf sich lädt, muss man sie ertragen wollen und können! Wissen, wofür man sein Seelenheil riskiert. Ich hatte Coligny wegen Hochverrat zum Tode verurteilt, begnadigt und erneut verurteilen müssen. Er war unverbesserlich. So gab ich den Lothringern die ersehnte Erlaubnis zur Blutrache.“

 

Sie ist mir viel zu nah. Gott sei Dank hat sie keinen Mundgeruch. Ich weiche vorsichtig ein paar Schritte zurück. Sie merkt es nicht. Von wegen Gedankenlesen!

 

„Unfähig! Einfach nur unfähig! Nach dem missglückten Schuss musste ich schnell entscheiden. Du kannst nicht etwas beginnen und nicht beenden, dann verlierst du jede Kontrolle. Die endgültige Exekution sollte am frühen Morgen erfolgen.“

 

Jetzt erst nimmt sie mich wieder wahr. „Dann hört man beim Gegröle der Betrunkenen den Knall nicht. Warum, meinst du wohl, habe ich den Termin so kurz nach der Hochzeit gewählt?“

 

Ihre Souveränität dauert nicht lang, wie ein gefangenes Tier in einem zu engen Käfig wankt sie hin und her, hält sich die Ohren zu und schreit: „Warum ist das so ausgeartet? Diese barbarische Schlächterei, nicht nur in Paris, im ganzen Land! Genau so etwas habe ich doch stets zu verhindern gesucht! Das hat kein Gott gewollt, mein Sohn und ich gewiss auch nicht, obwohl gerufen wurde: ‚Der König will es!‘ Lügen! Nichts als Lügen!“

 

Ich höre sie keuchen. Kaum kann ich ihre Augen erkennen. Endlich spricht sie wieder, sehr leise und sehr resigniert:

„Cui bono, Kindchen? Nur den Lothringern und Philipp. Das aber will niemand hören. Ich habe für den Frieden und den Erhalt des Königreiches gearbeitet, bis zu meinem Tod. Und noch immer bin ich ‚die Mörderin der Bartholomäusnacht‘. Niemand besucht mich, aber der Filou von Schwiegersohn bekommt rote Rosen. Dabei hat er nur meine Politik fortgeführt.“

 

Sie kann sich nicht entschließen, zu bleiben oder zu gehen. Endlich doch eine letzte Äußerung: „Ein junger Spross an einem alten Baum. Gut, dass er nicht mein Sohn war, sonst wäre er vielleicht auch schwach und verwöhnt gewesen. War ich zu stark?“

 

Ihre Frage hallt lange nach.

 

Katharina ist weg. Ihre Kraft, ihre Trauer und Düsternis bleiben. Benommen kehre ich in das Hauptschiff der Kathedrale zurück, ein Lichtstrahl zaubert blaue und rote Streifen auf die weißen Säulen. Ich werde ihr Blumen bringen. Gleich morgen. Immortellen. Sie wird vermutlich lächeln und zynisch kommentieren: „Haltbarer als Lilien immerhin.“