Von Anne Zeisig

Bernd, Wolfgang und Peter hasteten durch dichtes Gestrüpp und riefen immer wieder den Namen ihres Freundes in das nächtliche Dickicht hinein, bis sie sich erschöpft auf einer Lichtung niederließen. Die Wolken rissen auf und etwas Licht vom zunehmenden Mond erhellte die Finsternis.

 

„Es war eine Schnapsidee, mitten im Wald, mitten im Herbst, wild zu campen. Wir sind nicht mehr zwanzig!“ Bernd rieb sich die Hüften. „Ich sollte mit den Rheumaknochen lieber auf meiner orthopädischen Matratze liegen.“

 

„Neben Carola, der du mit deiner Schnarcherei auf den Senkel gehst“, entgegnete Wolfgang und schüttelte den Kopf. Dabei rutschte seine Nickelbrille fast bis auf die Nasenspitze hinunter.

 „Woher weißt du, dass Carola vom Schnarchen genervt ist?“, fragte Bernd verdutzt.

„Weil das alle langjährigen Ehefrauen nervt“, antwortete Peter anstelle von Wolfgang und fügte an, „wir haben ja zwei getrennte Schlafzimmer.“

„Fast vergessen!“, rief Bernd, „du hast es ja auch zu was gebracht und musst dich nicht mit dem schnöden sozialen Wohnungsbau zufrieden geben.“ Angeber, dachte er.

Peter mahnte zur Ruhe: „Wir sollten uns lieber auf die Suche nach Paul machen.“

Bernd leckte immer noch seine Wunden, massierte sich aber jetzt die Knie: “Wir müssen endlich den Irren finden. Wer weiß, was der in seinem Wahn anstellt. Die Feuchtigkeit kriecht mir allmählich durch und durch.“

Peter zündete sich eine Zigarette an: „Ihr habt euch aber auch kräftig über ihn lustig gemacht. Da hätte ich auch das Weite gesucht.“

„Wie früher! Immer nimmst du ihn in Schutz.“ Bernds Stimme überschlug sich unnatürlich hoch. „Peter und Paul, das unzertrennliche Pärchen!“

Wolfgang kicherte. „Schade, dass heute nicht der 29.Juni ist.“

„Warum?“, fragte Peter, „weil das Wetter dann für Bernds Skelett bekömmlicher ist?“

Der winkte ab.

Wolfgang atmete tief durch: „Weil das der Feiertag ist, an dem die Katholiken des Hl. Petrus und des Hl.Paulus gedenken. Bis zur Einführung des römischen Kalenders war es der 30. Juni. Simon Petrus war Begründer des Papsttums. Paulus von Tarsus war ein erfolgreicher Missionar des Urchristentums.“

Peter lachte: „Da kann man mal sehen, was Paul und ich für berühmte Namenspatrone haben. Das also verbindet uns.“

‘Wolfgang, der katholische Streber’, dachte Bernd und sagte spöttisch: „Die streng katholische Erziehung von Wolfgangs Eltern setzt ihm offenbar immer noch mächtig zu.“ Er machte eine kurze Pause. „Aber um auf Pauls Flucht zurückzukommen, Marilyn Monroe war bestimmt nicht katholisch.“

„Sie war unter dem Namen Norma Jean Baker 1926 kirchlich getauft worden. Im Juni“, antwortete Wolfgang wie aus der Pistole geschossen. 

„Etwa am dreißigsten?“, fragte Bernd und hob abwehrend die Hände. „Bitte nicht! Sag, dass du das nicht weißt!“

„Es war der sechste Juni“, schoss Wolfgang sofort hinterher.

 

Peter lachte und mahnte zum Aufbruch.

„Jetzt mal ohne Quatsch mit Senf“, Bernd zog tief an seiner Kippe, „ich hätte schwören können, dass bei Paul auf dem Sofa eine höchst kurvige Blondine gesessen hat.“ Er zog noch tiefer an dem Glimmstängel. „Die Jalousien waren nicht runter, der Fernseher lief und erhellte nur flackerhaft den Raum, aber ich konnte deutlich sehen, dass sich da ein Weibsbild räkelt.“ Er formte mit den Händen zwei Halbkreise vor seiner Brust. „Mit solchen Möpsen! Ich schwörs euch.“

Wolfgang hackte mit einem Stöckchen im Dickicht herum: „Aber die Monroe kann es nicht gewesen sein, die ist 1962 an einer Überdosis Barbituraten gestorben.“

„Etwa auch im Juni?“, witzelte Peter.  

Wolfgang legte mit seinem Wissen nach: „August. Es gab auch Vermutungen, dass die Dame umgebracht worden sei, weil sie mit John F. Kennedy eine Affäre gehabt haben soll. Am Abend vor ihrem Tod soll jedenfalls Kennedys Bruder bei ihr zu Besuch gewesen sein. Und noch jemand, der Name fällt mir aber nicht ein.“

„Oh! Dir fällt mal etwas NICHT ein.“ Bernd warf ein Steinchen ins Gebüsch. ‘Abzug für ‘s Einser-Abi. Katastrophe!´

„Tatsache ist, die Gnädigste lebt nicht mehr. Also kann sie nicht die neue Räkel-Flamme auf der Couch sein. Pauls Kurvige mag ähnlich aussehen, aber die Monroe war es nicht“, stellte Peter fest.

 

Bernd warf seine Kippe weg: „Aber Paul hat felsenfest behauptet, es sei die Monroe! Ihr habt ihn doch erlebt! Steif und fest hat er daran festgehalten!“

Wolfgang blickte versonnen zum Mond: „Erinnert ihr euch noch an ‘Blondinen bevorzugt’? Oder ‘Wie angelt man sich einen Millionär’?“

„Bin ich etwa schwul?“, raunzte Bernd ihn an, „kein Kerl guckt sich sowas an. Weiberfilme!“

Wolfgang ließ sich nicht beirren: „Interessanter war das B-Movie ‘Ich tanze in Dein Herz’ von 1948. Aber erst im Film ‘Asphalt Dschungel’ von 1950 kam ihr wirkliches Talent zum Vorschein!“, schwärmte er.

Es folgte eine Schweigeminute, bis Peter sich zu Wort meldete: „Paul hat ja auch gemeint, dass die Marilyn, also ‘seine’ Norma Jean Mortensen, zu Unrecht nur als Sexbombe angesehen wurde. Sie wäre auch Filmproduzentin gewesen und hätte einen Preis, einen sechsten Platz vom, äh“, Peter blickte Wolfgang hilfesuchend an.

„American Film Institute erhalten“, vervollständigte Wolfgang den Satz und nickte beflissen.

„Stimmt“, pflichtete Peter bei, „das hat Paul erzählt. Aber trotzdem ist die Monroe nicht `seine´ Norma, weil die auf Wolke Rosarot weilt.“

Bernd zündete sich die nächste Zigarette an: „Ihr könnt sagen was ihr wollt, Paul hat durch seine Aufenthalte in der Pflegefamilie und den Heimen ‘nen Knacks weg. Fünf gescheiterte Ehen! Sorry! Da muss man sich wenigstens im Alter einbilden, man hätte die Monroe auf dem Bett sitzen.“

„Sofa“, berichtigte Peter, „eben hast du noch erzählt, es wäre das Sofa vor dem Fernseher gewesen.“

„Jungs! Wir müssen ihn suchen“, er zeigte in die Runde, sonst tut der sich noch was an.“

„Die Monroe war auch Halbwaise, ist auch in einer Pflegefamilie aufgewachsen und war auch im Kinderheim“, flüsterte Wolfgang, „es gibt also Parallelen zu Paul.“

„Ach neee“, maulte Bernd, „jetzt lass nicht den Therapeuten raushängen!“

„War Paul überhaupt schon ausgenüchtert, als er uns das erzählt hat?“, fragte Peter.

„Ich für meinen Teil hatte jede Menge Cortison intus wegen meiner Arthroseschmerzen, da ist ja schon ein Glas Rotwein zuviel“, erklärte Bernd. „Und trotzdem saß da diese attraktive Blondine auf dem Sofa“, säuselte er Peter ins Ohr.

Wolfgang war bereits vorgegangen, blieb aber abrupt stehen, starrte ins Dunkel zeigte mit dem Zeigefinger nach vorne.

„Was ist?“, zischte Peter.

Sie sahen, wie sich eine Gestalt aus der Dunkelheit heraus schälte.

Eine Weibliche!

Nun blieben alle ruhig stehen.

„Das wird doch wohl nicht Marilyn sein“, flüsterte Bernd kaum hörbar.

Die Männer standen auf gleicher Höhe und blinzelten angestrengt.

„Die Monroe hat übrigens auch noch den ‘Golden Globe’ für ‘Manche mögen’s heiß’ erhalten“, erwähnte Wolfgang mit zitternder Stimme und fasste die Freunde fest an seine verschwitzten Hände.

Bernd entzog ihm seine: „Spinnst du?“, zischte er. „Bist wohl auch noch nicht nüchtern.“

 

„Da hat Paul mir ja den richtigen Weg zu euch gewiesen!“, rief Carola und baute sich vor ihrem Mann Bernd auf. „Campen! Bei der feuchtnassen Witterung!“ Sie schüttelte den Kopf. „So eine Schnapsidee!“, und schnüffelte an ihm. „Du hast was getrunken! Und das bei deinem Cortisonkonsum!“

Bernd nickte den anderen zu: „Sagte ich doch! Schnapsidee!“

„Wir suchen Paul. Der ist wütend abgehauen, weil wir uns über seine Freundin lustig gemacht haben“, erklärte Peter. „Denn das soll ja die Monroe sein. DIE Monroe“, betonte er.

„Stopp!“, rief Wolfgang und sah Carola an. „Hast du nicht gerade gesagt, Paul hat dir gesagt, wo wir sein könnten?“

Sie nickte. „Als ich den Zettel auf dem Küchentisch las, dass Ihr campen seid, bin ich zu Paul, weil ich angenommen habe, dass der Wild-Campen nicht mitmacht.“

„Der hat aber mitgemacht“, sagte Wolfgang und maulte: „Hockt längst im Warmen und wir hetzen uns hier auf der Suche nach ihm ab!“

„Übertreib mal nicht. Wir haben uns keine fünfzig Meter vom Zelt entfernt“, korrigierte Peter ihn.

Bernds Stimme ging wieder unnatürlich in die Höhe: „Und wir hatten Angst, er könne sich was angetan haben wegen dieser Monroe-Spinnerei!“ 

 

Carola grinste breit, sehr breit und schlug vor, dass die Männer zurückgehen sollten, das Zelt abbauen und sie mit ihrem Auto bereits vorfahren würde. „Ich koche euch dann mal einen extra starken Kaffee zum Ausnüchtern.“

„Warum bist du denn überhaupt gekommen?“, fragte Bernd seine Frau und rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Ischiasnerv.

„Für heute Nacht ist eine Gewitterwarnung herausgegeben worden.“

 

* * *

 

Carola machte es sich in ihrem Wagen bequem und drehte die Heizung auf.

Dort nahm sie noch einmal den Katalog von dieser japanischen Firma aus ihrer Handtasche, den Paul ihr freundlicherweise überlassen hatte:

 

„Lebensechte Voll-Silikonpuppen in jeder gewünschten Sonderanfertigung möglich.

Absolut natürliches Hautgefühl.

Mit Echthaar. Sehr gelenkig.

Nicht mit aufblasbaren Gummipuppen zu vergleichen.“

 

Sie blätterte darin, strich sich ihr Haar hinter die Ohren und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

‘Paulus von Tarsus! Ein muskulöser Mann!’, las sie und seufzte. ‘Was für ein Kerl. Schnarcht nicht, trinkt nicht und hat keine Arthrose.’

Carola lehnte ihren Kopf an das Wagenfenster und blickte versonnen zu den wippenden Baumwipfeln.

 

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