Von Ursula Riedinger

Juni 1908. Anoushka ist in ihrem roten Plüsch-Sessel eingeschlummert. Ihre Gouvernante hält ein wachsames Auge auf das Mädchen. Endlose Wälder ziehen an ihnen vorbei. Eine schöne, unberührte Landschaft, aber Liliane Fleurie hat kein Auge für die Natur. Anoushkas lange Haare haben sich gelöst, sie sieht hübsch und verletzlich aus, wie sie so schläft mit einem Lächeln auf den Lippen. Woran sie wohl denkt? Jetzt sieht sie sehr sanft aus, aber das kleine Fräulein kann auch ganz anders sein kann: wild und eigenwillig. Sie trägt ein dunkelblaues Kleid mit einem weissen Pelzkrägelchen. Anoushka wird viele Verehrer anziehen, das kann man leicht erkennen.

Der Zug ruckelt, bremst und fährt quietschend in den nächsten Bahnhof ein. Anoushka schlägt die Augen auf.

„Wo sind wir, Mademoiselle?“

„Wir sind schon in Birobidschan, jetzt dauert es nicht mehr so lange, bis wir in Wladiwostok eintreffen.“

Ein Weilchen liest Mademoiselle Fleurie Anoushka aus „Die Brüder Karamasow“ auf Französisch vor, schliesslich soll Anoushka ihr Französisch verbessern. Dann legt sie das Buch zur Seite.

„Beschreiben Sie mir, was Sie machen werden, wenn Sie erwachsen sind.“ Ein dankbares Thema, Anoushka liebt es.

„Ich möchte in einem schönen Haus wohnen, irgendwo auf dem Land, nicht in Moskau. Wir werden Pferde halten, mit denen ich ausreiten kann. Und natürlich werde ich einen lieben Mann haben, der für mich da ist, nicht immer unterwegs wie Papa. Aber ich möchte auch reisen und die Welt studieren, und …“

Anoushkas Redefluss wird jäh unterbrochen. Der Zug bleibt mit quietschenden Rädern abrupt stehen. Die Fahrgäste werden durchgeschüttelt. Von draussen, aus der Ferne, hört man ein lautes Grollen oder Donnern. Was ist das? Als die Passagiere aus dem Fenster in den blassen Morgenhimmel schauen, sehen sie einen riesigen roten Feuerschein, der den ganzen Horizont erhellt. Unter den elegant gekleideten Zugsgästen, Adligen, Ärzten oder Unternehmern, entsteht eine lebhafte Diskussion. Niemand kann sich dieses Grollen oder den Feuerschein erklären. Endlich fährt der Zug weiter.

In den folgenden Jahren wird die Welt nach und nach erfahren, dass die Explosion, über deren Ursache immer noch gerätselt wird, riesige Waldflächen vernichtet, dicke Staubwolken verursacht und einen hellen Widerschein erzeugt hat. Die Folgen davon wurden sogar weit entfernt in Mitteleuropa verspürt.

Juni 1922. Vierzehn Jahre später, hat sich die Welt in Russland verändert. Das alte Russland gibt es nicht mehr. An dessen Stelle ist die Sowjetunion getreten.

Anoushka steht im Labor der Akademie der Wissenschaften in Leningrad. Sie trägt einen weissen Laborkittel, darunter ein einfaches graues Kleid. Ihre Haare sind zu einem losen Knoten zusammengebunden. Sie ist stolz, dass man ihr als junger Wissenschaftlerin die Forschungen an den Fundstücken aus dem Gebiet der Steinigen Tunguska übertragen hat, welche die Expedition von Leonid Kulik vor ein paar Jahren mitbrachte. Sie streicht sich eine Haarsträhne nach hinten und beugt sich über die winzigen Gesteinsproben. Möglich wäre ein Einschlag eines Kometen, der eine gewaltige Explosion ausgelöst und dabei viel Material aufgeschmolzen hat. Aber dies kann sie nicht beweisen. Noch nicht.

Wenige Jahre nach der Zugsfahrt mit der Sibirischen Eisenbahn von Moskau nach Wladiwostok, bei der Anoushka ihren Vater begleitet hatte, war die Revolution über Russland hereingebrochen. Vor der Gewalt flohen viele ins Exil. Ihre Eltern schickten das junge Mädchen zusammen mit ihrer Gouvernante zu ihrer Tante nach Paris. Ihre Brüder blieben mit den Eltern in Moskau. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Der Kontakt brach ab. Über russische Immigranten in Paris erfuhr Anoushka, dass ihre Eltern und ihre Brüder umgekommen waren.

Dank ihrer Tante Anastasia gelang es Anoushka mit der Zeit, ihre Trauer zu überwinden. Zwar vermisste sie vor allem ihren Vater sehr, aber ihr Leben veränderte sich. Anastasia war eine Freidenkerin, die in Paris in kommunistischen Kreisen verkehrte und sich stark für Frauenrechte einsetze. Sie kümmerte sich um die Zukunft Anoushkas, ermöglichte es ihr, in Paris Geschichte und Geologie zu studieren. Sie nahm sie auch an politische Versammlungen mit. Anoushka begriff, in was für einer behüteten Welt sie als Kind gelebt hatte.

Nun ist sie in ihre Heimat zurückgekehrt, um ihrem Land zu dienen. Sie hat eine Anstellung bei der Akademie der Wissenschaften erhalten. Eine grosse Ehre, gewiss, aber sie hat auch mit unermüdlichem Fleiss darauf hingearbeitet, hat hervorragenden Zeugnisse mitgebracht. Tante Anastasia liess sie nicht gerne ziehen. Zwar setzte sie sich für eine egalitäre Gesellschaft ein, aber sie war nicht überzeugt, dass die Revolution, die Lenin begonnen hatte, zu einer neuen Gesellschaftsordnung führen würde. Aber Anoushka freute sich wie ein Kind, nach Russland zurückzukehren.

In ihrem kleinen Zimmer bei ihrer Zimmerwirtin, Mutter Nadjenka, kommt Anoushka wieder die Zugfahrt mit der sibirischen Eisenbahn in den Sinn, bei der sie den flammenden Himmel gesehen hatte. Damals war sie ein verwöhntes junges Ding gewesen, dass von einem reichen Mann und einem grossen Haus geträumt hatte. Wie anders war alles gekommen. Ich werde noch herausfinden, was beim Einschlag in Sibirien 1908 genau passiert ist, denkt Anoushka. Dann fallen ihr die Augen zu und sie sieht fast wieder aus wie als vierzehnjähriges Mädchen mit rosigen Wangen und einem Lächeln auf den Lippen.

Schon sieht sie sich die Stufen zur Bühne im grossen Saal der Akademie heraufgehen. „Genossin Anna Iwanowa, wir überreichen Ihnen die Medaille für Ihre herausragenden wissenschaftlichen Forschungen auf dem Gebiet des Kometenfalls in der Steinigen Tunguska, durch die Sie unser Land weitergebracht haben. Die Sowjetunion ist stolz auf Sie.“

Juni 1928. Anoushka schaut aus dem Fenster im 6. Stock Avenue Victor Hugo. Unten auf der Strasse zieht ein Demonstrationsumzug vorbei; die Demonstranten tragen grosse Plakate, auf denen Gleichheit für die Frauen gefordert wird. Im Kinderzimmer plärrt die kleine Jelena los. Anoushka holt sie und geht mit ihr auf dem Arm ans Fenster.

„Schau, Jelena, so viele Frauen. Wenn du gross bist, werden Frauen und Männer gleiche Rechte haben.“

Gleich kommt Pierre mit dem dreijährigen Wassily nach Hause.

Nach dem Tod von Lenin veränderte sich die Stimmung in der Sowjetunion. Anoushka fühlte sich nicht mehr wohl in Russland, man machte ihr das Leben schwer. Schweren Herzens verliess sie ihre Heimat erneut.

In Paris verliebte sie sich in Pierre. Bald darauf heirateten sie und Wassily kam auf die Welt. Jetzt, mit zwei kleinen Kindern, bleibt der jungen Mutter nicht viel Zeit, um an ihre Forschungen über den Kometen zu denken. Aber sie hat ihre Träume nicht begraben, nur verschoben. Sobald die Familiensituation es zulässt, wird sie wieder wissenschaftlich tätig sein. Pierre unterstützt diese Idee. Sie wird weiter forschen und dazu beitragen, die Welt besser zu verstehen.

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