Von Marcel Porta

Hamburg, 19.12.2022

 

Warum musste AC/DC ausgerechnet an diesem Wochenende spielen, fragte Benno sich bestimmt zum hundertsten Mal. Hätten die sich nicht irgendeinen anderen Tag aussuchen können für ihr einziges Konzert auf deutschem Boden? Etwa den Auftritt in Zürich mit dem in Berlin tauschen? An einem Montag nach Zürich, das konnte er sich aus mehreren Gründen nicht leisten, aber an einem Sonntag nach Berlin, das sprengte weder seinen Geldrahmen, noch kollidierte der Termin mit den Vorstellungen seines Arbeitgebers von Pflichterfüllung.

 

„Mama, kannst du deine Geburtstagsparty nicht verschieben? Ich muss an diesem Sonntag UNBEDINGT nach Berlin. Ich werde sonst mein Leben lang dieser verpassten Gelegenheit nachtrauern, da bin ich sicher.“ Benno hat lange gezögert, ob er so selbstsüchtig sein soll, seine Mutter darum zu bitten, aber der innere Drang war am Ende doch zu groß geworden und es musste raus.

„Aber Benno, ich habe doch schon alle eingeladen und zudem kann ich meinen Geburtstag nicht auf einen anderen Tag verschieben. Ich bin nun mal am 20. 12. geboren und nicht am 19. oder 21. Aber du kannst ja einfach wegbleiben, wenn dir Berlin wichtiger ist.“

Seine Mutter half ihm aber auch kein Stück. Es war ihr 50. Geburtstag und damit ein ganz besonderer Tag. Zudem war Oma genau an ihrem 50. Geburtstag gestorben, und obwohl seine Mutter es niemals zugeben würde, wusste Benno, dass sie panische Angst vor dem Ehrentag hatte. Wenn Benno fortging, wäre niemand da, der ihr die Stunden vor der Party erträglich machen würde, denn sein Vater hatte sich schon vor Jahren als Idiot erwiesen, der auf Familie keinen Bock hatte und lieber Weiberschürzen hinterherstieg. Geschwister gab es keine, also sah er es eigentlich als seine Aufgabe an, wenn da nur nicht das Konzert gewesen wäre …

 

***

 

Stuttgart, 19.12.2022

 

Klaus lag im Sterben. Mit gerade mal 55 Jahren musste er aus dem Leben scheiden. Er lag im Marienhospital in Stuttgart und mit jedem Atemzug wurde sein Leben weniger.
„Ach Bruder“, bedauerte ihn Hans, der an seinem Bett saß, „ warum musstest du dich mit diesen Idioten anlegen. Was hast du damit denn erreicht? Du stirbst jetzt, statt dieser Schwarzen, der kein Hahn nachgekräht hätte. Kein guter Deal, würde ich sagen.“

Sein Bruder hatte Mühe zu verstehen, was Hans ihm zu verstehen geben wollte, doch als er endlich begriffen hatte, blitzten seine Augen wie in alten Tagen. Sprechen konnte er nicht mehr, aber Hans bekam auch so mit, was Klaus sagen wollte. Er war ein unbelehrbarer Altruist, immer schon gewesen. So ganz anders als ich, dachte Hans. Ich hätte mich garantiert nicht eingemischt, hätte die Idioten weiter auf sie einprügeln lassen. Für niemanden würde ich mein Leben riskieren. Und für so eine schon gar nicht. Never!

 

„Morgen muss ich nach Berlin“, teilte Hans seinem Bruder mit, obwohl er nicht sicher war, ob der ihn noch verstand. „Absolut wichtig! Ich habe nur eine Bitte an dich: Stirb mir nicht, wenn ich weg bin!“

Klaus schaute apathisch zur Wand, er hatte ihn wohl nicht verstanden. Ein klitzekleines bisschen hatte Hans ein schlechtes Gewissen. Eigentlich sollte er bei seinem Bruder bleiben. Höchst wahrscheinlich würde der nämlich seiner Bitte nicht entsprechen können und den morgigen Abend nicht mehr erleben. Aber wenn er bei seinem Bruder blieb, ging ihm das lukrative Geschäft mit den Gebrauchtwagen durch die Lappen. Und ein Krösus, der mal eben so auf zehntausend Euro verzichten konnte, war er nicht, das stand mal fest. Hundertprozentig war er sich noch nicht im Klaren, wie er sich morgen entscheiden würde.

 

***
Berlin, 19.12.2022

 

Simone verstand sich selber nicht mehr. Seit einem Vierteljahrhundert war sie mit Bertram verheiratet und hatte nie daran gedacht, mit einem anderen Mann auch nur zu flirten. Und nun hatte dieser Stefan es in nur einer Woche geschafft, sie ins Bett zu bekommen. Sie hatte ihn auf der Tagung, zu der ihre Firma sie geschickt hatte, getroffen und ihn zuerst gar nicht erkannt.

„Bist du es oder bist du es nicht?“

Der Mann, der sie am ersten Tag mit diesen Worten angesprochen hatte, kam ihr zwar irgendwie bekannt vor, doch einordnen konnte sie ihn nicht.

„Na klar bin ich es“, witzelte sie und strengte ihr Gehirn an, um die Identität ihres Gegenüber zu ergründen.

„Simone? Ich glaub’s ja nicht!“

Er schien sie wirklich zu kennen. Und als der Mann sich mit einer nonchalanten Bewegung die Haare aus der Stirn schob, wusste sie plötzlich, wer vor ihr stand und eine tiefe Röte stieg ihr ins Gesicht.

„Stefan?“, fragte sie dennoch nach, obwohl es inzwischen keinen Zweifel mehr gab, dass ihr ehemaliger Liebhaber vor ihr stand. Sie hatten sich getrennt, weil er einen Job in Indonesien angenommen hatte, und kurz darauf hatte sie Bertram kennen und lieben gelernt.

 

Im Laufe der Woche waren sie sich nähergekommen und am heutigen Tag waren sie im Bett gelandet. Ein unglaubliches Erlebnis, das Erinnerungen an damals, als sie täglich miteinander geschlafen hatten, geweckt hatte. Und die Sehnsucht nach mehr ließ sie nicht mehr los.

„Hallo Bertram“, begrüßte sie ihren Mann am Telefon. „Ich muss leider noch einen Tag in Berlin bleiben. Es gibt einen Zusatzkurs, den ich gut brauchen kann.“

„Aber wir wollten doch morgen unseren 25. Hochzeitstag feiern, wir haben Karten für Tosca und ein Essen in der Speisemanufaktur in Düsseldorf bestellt. Das kannst du doch nicht so mir nichts dir nichts sausen lassen wegen so eines blöden Kurses?!“

Daran hatte Simone überhaupt nicht mehr gedacht, so sehr hatte Stefan sie mit seiner prickelnden Gegenwart vereinnahmt. Was mache ich jetzt, dachte sie, ich muss mich entscheiden …

 

***

 

Berlin, 19.12.2022

 

Helga sparte seit Monaten. Jeden Cent, den sie sich vom Mund absparte, legte sie beiseite. Als Single ohne Arbeit und Einkommen, der nur vom Betteln lebte, war es unendlich schwierig, zweihundert Euro zusammen zu bekommen. Die Eintrittskarten zu dem Konzert von Cecilia Bartoli hatte sie inzwischen bezahlt und erhalten. Helga hütete sie wie einen Augapfel, trug sie in einer Plastiktüte eingepackt zwischen ihren Brüsten. Kein Dieb würde es wagen …

Vom Gesamtbudget waren damit schon mehr als 70 Prozent verbraucht. Der Rest würde für die Fahrkarte draufgehen und um sich in Zürich über Wasser halten zu können sollte auch noch etwas übrig sein.

Seit sie so konsequent sparte, freute sie sich auf das Konzert. Cecilia, ich komme, dachte sie immer wieder und lächelte so oft, dass ihr Kumpan Siegmund begann, dumme Fragen nach einem Liebhaber zu stellen.

Und jetzt dieser Schock! Das Geld war weg. Verloren oder geklaut. Sie wusste es nicht. War letztlich auch egal, es war so oder so eine Katastrophe. Das Konzert war morgen, und selbst wenn sie ganz Berlin anbettelte, so viel Geld bekam sie in so kurzer Zeit nicht zusammen. Ein Wahnsinn, mit der Eintrittskarte in Berlin festzusitzen. Erst heulte sie sich die Augen aus dem Kopf, aber irgendwann siegte ihr Pragmatismus über die Lähmung.

„Siegmund, ich weiß, dass du ein bisschen Geld flüssig hast. Kannst du mir 50 Euro leihen? Ich brauche sie dringend. Du bekommst sie zurück, sobald ich sie wieder zusammenhabe.“

Siegmund schaute sie entgeistert an, denn noch nie hatte Helga ihn um solch einen Gefallen gebeten.

„Hm, wenn ich dir das Geld gebe, bin ich blank.“

„Ach komm, ich zahle dir sogar Zinsen satt. Du bekommst 60 Euro zurück.“

„Ich bin doch kein Wucherer! Wie wäre es, wenn du etwas anderes bietest.“

Sein Grinsen ließ einen unguten Verdacht bei Helga aufkommen.

„Du weißt, was ich schon lange von dir will. Komm in mein Bettchen, nur für eine Nacht, dann kannst du das Geld haben. Geliehen natürlich nur.“

Nein, du bist kein Wucherer, aber ein Schwein, dachte Helga und wandte sich brüsk ab. Sie wusste, dass niemand sonst ihr Geld leihen würde, aber mit Siegmund ins Bett steigen – nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Lieber sollte ihr Traum ein Traum bleiben und Cecilia musste ohne sie singen. Oder sollte sie vielleicht doch …?

 

***

 

Berlin, 20.12.2022

 

Bis zuletzt hatten die Wissenschaftler behauptet, der Komet würde in der Atmosphäre verglühen. Das wäre sicher auch passiert, wenn er aus normalem Material wie alle anderen gewesen wäre, die bisher beobachtet worden waren. Doch dieser Komet war anders. Er bestand aus etwa, das es auf der Erde nicht gab und das künstlich hergestellt worden war. Von einer Intelligenz, die seit vielen Millionen Jahren Erdenzeit ausgestorben war. Niemand erfuhr jemals, welchem Zweck das Objekt gedient hatte, das zur Erde stürzte und Berlin auslöschte.

 

***

 

Hamburg, Zürich, Stuttgart, Düsseldorf, 20.12.2022

 

 

Irgendjemand hatte die Nachricht auf seinen Ticker bekommen und sie verbreitete sich wie ein Lauffeuer auf der Party. Benno, der gerade noch mit seiner Mutter getanzt hatte, dachte bei sich: Wie gut, dass ich niemanden in Berlin kenne. Doch dann fiel ihm AC/DC ein …

 

Klaus ging es wider Erwarten besser. Obwohl er über die Entscheidung seines Bruders, an diesem Tag geschäftlich nach Berlin zu verreisen, ziemlich enttäuscht war, traf ihn die Nachricht wie ein Hammer. Überlebende hatte es keine gegeben, also war wohl auch sein Bruder …

 

Mitten während des dritten Akts wurde Tosca unterbrochen und ein junger Mann mit Mikrofon trat auf die Bühne. Ein unerhörtes Ereignis, aber was er zu verkünden hatte, war so extrem, dass niemand mehr an Toscas Leiden dachte. Bertram ergriff die Hand der Frau neben sich und drückte sie so fest, dass sie aufschrie. „Mutter!“, keuchte sie und fiel ihrem Vater schluchzend in die Arme.

 

Schwarzfahren gehörte eindeutig zu den Dingen, die Helga nicht haben musste. Und dennoch hatte sie diese ungeliebte Art des Reisens einem Techtelmechtel mit Siegmund vorgezogen. Und das Schicksal meinte es gut mit ihr: Nur einmal musste sie sich auf der Toilette verschanzen, ansonsten hatte sie außer Stress nichts zu erdulden auf der Reise. Wie gut es das Schicksal wirklich mit ihr gemeint hatte, erfuhr sie von Cecilia persönlich, als die unmittelbar nach dem letzten Applaus noch einmal weinend auf die Bühne trat.

 

© Marcel Porta, 2018
V1