Von Fini Gerstner

Die Stadt lag verlassen zu unseren Füßen, nur vereinzelt dröhnte der Motor eines Autos zu uns hinauf. Die meisten waren längst geflohen, wer jetzt noch hier war, würde bleiben und seinem Schicksal ins Auge blicken. Genau wie wir.

Nur einige blassgelbe Lichter hinter den Wohnungsfenstern erinnerten daran, dass Berlin keine Geisterstadt war, zumindest noch nicht. Hinter mir hörte ich Todds leises Atmen.

„Noch zweiundvierzig Minuten“, murmelte er und spielte gedankenverloren mit dem Lederband seiner Uhr, wie immer, wenn er nervös war. Ich wollte etwas antworten, aber ich schwieg. Vielleicht wollte ich keine Worte mehr verschwenden, jetzt wo es schon fast zu spät war, aber ich hatte das Bedürfnis, alles herauszuschreien, was noch in mir drin war. Mein Blick glitt über die Dächer von Berlin, die verlassenen Straßen, den Fernsehturm, dessen Lichter immer noch zu uns hinüberschienen, für wen auch immer. Jetzt war sicher niemand mehr am Alexanderplatz, geschweige denn oben auf dem Turm.

Hier oben auf dem Dach wirkte es viel stiller als sonst in den letzten Tagen, fast als wäre die Menschheit bereits ausgelöscht worden. Aber wir waren noch da, eine handvoll Bewohner die nicht wussten wohin, oder die verstanden hatten, dass eine Flucht sie nicht vor Alpha retten konnte. Wir, die noch da waren, hatten alle Phasen des Sterbens durchlebt.

Phase 1, Verleugnung. Unmittelbar, nachdem sich die Nachricht verbreitet hatte, tauchten unzählige Verschwörungstheoretiker auf, widerlegten Alphas Existenz, stellten Formeln auf um zu beweisen, dass das Ding vielleicht nicht einschlagen würde, und wenn doch, möglicherweise nicht mitten in Berlin. Wir wollten ihnen glauben, aber spätestens nach der öffentlichen Ansprache der Regierung wurden ihre Stimmen schwächer, die Theorien unglaubwürdiger, die Bevölkerung hoffnungsloser.

Hoffnungslosigkeit, Sprungbrett für Phase 2, Verhandlung. Halb Berlin rannte die Kirchen der Stadt ein, um zu beichten oder einen Pakt mit Gott zu schließen, um der Katastrophe zu entgehen. Ganze Gebetsmärsche wurden veranstaltet, unzählige Menschen glaubten, gemeinsam wegzupilgern wäre eine Art Flucht mit Stil, aber auch sie würden dem Kometen nicht entgehen.

Jeder, der nicht betete, ging direkt in Phase 3 über: Wut. Brennende Autos, ausgeraubte Kiosks, zerschmetterte Scheiben, zerschmetterte Gesichter. Die Polizei unternahm nichts, wieso auch? Wenn das Ende naht, ist die Anarchie vermutlich unausweichlich. Zwei Tage lang hing schwarzer Rauch über den Dächern, Glassplitter zierten die Straßen, an manchen klebte Blut. Entweder, man verbarrikadierte sich, oder man ließ der Wut freien Lauf. Bei einigen war es das Ventil, die Angst vor dem Tod auf etwas anderes zu projizieren, andere taten es aus Trotz, einfach weil sie keiner daran hinderte.

Aber letztendlich erreichten alle die vierte Phase, sperrten sich zu Hause ein und trauerten. Über ihr Leben, die verpassten Chancen, die Fehler. Die wenigsten versuchten, ihre letzten Wünsche zu erfüllen und Dinge nachzuholen, die sie verpasst hatten, sondern versanken in der Depressionsphase, bevor sie zu akzeptieren begannen.

In weniger als dreißig Minuten würde Alpha über Berlin einschlagen, sich durch die Erdoberfläche fressen und einen Großteil der Bevölkerung ins Jenseits pusten. Auch ich hatte akzeptiert, nachdem ich mir die Knöchel an der alten, geblümten Tapete unserer Wohnung blutig geschlagen hatte, die Hitze des brennenden Containers im Gesicht spürte, die Tüte mit dem Gras nach Hause schmuggelte. Ich würde es nicht ändern können, genauso wenig wie der Rest der Gruppe. Wir konnten nur die letzten siebenundzwanzig Minuten gemeinsam verbringen. Deswegen saßen wir hier alle, auf dem Dach der alten Fabrik und blickten in den wolkenlosen Himmel, in die Sterne, zwischen denen irgendwo Alpha seinen Weg in unsere Umlaufbahn suchte. Der Geruch des Grases lag in der Luft und vernebelte meine Gedanken.

„Glaubst du, irgendwer wird sich an uns erinnern?“, fragte Grace in die Stille hinein.

Ihre sonst wirren, braunen Locken hatte sie zu einem ordentlichen Dutt zusammengebunden, das blassblaue Kleid war durch den Rost auf dem Dach ein bisschen fleckig geworden. Sie hatte darauf bestanden, an ihrem letzten Tag schön auszusehen, ihre Art, damit abzuschließen.

Bennett und ich rauchten, Todd folgte schweigend den Zeigern seiner Uhr, vielleicht gab es ihm Sicherheit, nicht überrascht zu werden. Oona hatte sich ein wenig abseits von uns auf die Feuerwehrleiter gesetzt und kritzelte etwas auf ein Blatt Papier in der Hoffnung, dass irgendetwas hiervon für die Nachwelt übrig blieb.

„Ich wäre gerne mehr, als nur eine Zahl in den Geschichtsbüchern, weißt du?“, fuhr Grace fort.
„Ich hätte es gerne früher gewusst“, gab ich zu, meine Stimme klang seltsam fremd in dieser absoluten Stille um uns herum. Neben mir nickte Bennett und nahm einen tiefen Zug des Joints, bevor er ihn mir reichte. Todd blickte auf, ließ für einen Moment die Zeiger aus den Augen und ließ das Lederband in Ruhe, das mittlerweile einen abgegriffenen Eindruck machte. In seinem Blick lag etwas Herausforderndes.

„Was würdest du denn machen, wenn du fünf Minuten länger hättest?“

Ich zögerte, vielleicht brachten einem fünf Minuten auch nicht mehr viel, aber ein Tag? Ein Jahr?

„In fünf Minuten? Nichts wahrscheinlich“, gab ich zu, „Was bleibt uns schon, außer das hier? Fünf Minuten hin oder her sind vermutlich auch schon egal.“

„Aber vielleicht ändert es auch alles“, murmelte Bennett, nahm mir den Joint aus der Hand und schnippte den Stummel über die Kante des Daches. Seine Augen wanderten zu meinen.

Wir sahen uns an und schwiegen, dachten an die Vergangenheit und an die Zukunft, die es nicht geben würde. Eigentlich waren wir nur ein Haufen sorgloser Kinder, unser ganzes Leben lag noch vor uns, aber Alpha machte uns allen einen Strich durch die Rechnung und tauchte unsere letzten Augenblicke in Melancholie.

„Noch vier Minuten“, informierte uns Todd und rutschte vom Schornstein zu uns.

„Wir hätten auch wegfahren sollen“, seufzte Bennett, „Aber dieses beschissene hätte-wäre-Gerede bringt jetzt auch nichts mehr.“

Ohne seinen Blick von mir zu lassen, griff seine Hand nach meinen Fingern. Seine andere tastete nach Todds Arm. Auch Ooona rückte in unseren kleinen Kreis, hielt Grace‘ rechte Hand, die sich mit der linken eine Träne aus dem Augenwinkel wischte. Ich spürte unser Blut in den Adern rauschen, unsere Herzen pulsieren und die Angst, die zusammen mit dem Weed in der Luft hing. Die wenigen Lampen hinter den Fenstern erloschen nach und nach, kein Auto war mehr zu sehen. In der Ferne flackerten die Lichter des Fernsehturms.

Fast gleichzeitig legten wir die Köpfe in den Nacken und lauschten dem Ticken der Zeiger von Todds Uhr. Meine Augen wanderten in den Himmel, und ich glaubte, einen der Sterne immer näher kommen zu sehen. Bennetts Hand war kühl, aber noch spürte ich seinen Herzschlag, parallel zu meinem.

Vielleicht wären fünf Minuten länger doch nicht schlecht gewesen.