Von Sabine Esser

Beim Frühstück schien alles klar zu sein. Nach dem Mittagessen sollte es losgehen. Er wollte nur noch schnell den Papierkram erledigen.

 

Die gepackten Koffer stehen neben der Wohnungstür, der große Gummibaum ist gegossen, das Geschirr abgewaschen und Oma Klinke vom Kiosk hat den Ersatzschlüssel. Die will partout nicht weg.

„Nich‘ mit mir! Nich‘ noch mal!“, schimpft sie seit Tagen. „Allet, wat nich‘ niet- und nagelfest war, hamse jeklaut. Ick pass‘ schon auf Ihre Sachen auf.“

Hildegard kontrolliert zum x-ten Mal den Kühlschrank: Ja, er ist leer, nichts Verderbliches mehr da. Alles säuberlich entsorgt.

Auf Oma Klinkes Rat hin ist der Kellerraum gut mit Haltbarem gefüllt, wenn nötig, in alte Stollendosen gepackt. Vor allem aber Kaffee und Fleischkonserven.

„Die Ratten, wissense“ und „Man weeß ja nie, wofür’t jut is‘. Is ooch ’ne Währung, wenn’t hart auf hart kommt.“

 

„Bares für Rares“ läuft im ZDF. In den Nachrichten wurde wieder mal gebeten, die Stadt bis 19 Uhr zu verlassen und nur das Nötigste mitzunehmen. Das Foto von der „Goldenen Hochzeit“ vor sechs Jahren! Hat sie es eingepackt? Ein schneller Blick: Ja, der Platz in der Schrankwand ist leer.

Hildegard kann sich nicht auf ihre Lieblingssendung konzentrieren, starrt aus dem Fenster. Es ist viel zu ruhig im ganzen Haus und auf der Straße. Eigentlich würde jetzt Frau Bertram aus dem Hochparterre mit ihrem übergewichtigen Maxi dahinten an der Linde warten, bis er endlich kann. Dass der überhaupt noch sein Bein hochkriegt …?

 

Die Stubenuhr tickt laut. Noch ist Zeit, die Stadt zu verlassen und zur Tochter nach Lüneburg zu fahren.

 

Zaghaft klopft sie an die Tür des ehemaligen Kinderzimmers und öffnet sie einen Spalt weit.

„Wir müssen wirklich los. Das ganze Haus ist leer.“

Herbert explodiert: „Wie soll ich so arbeiten! Hast du nicht begriffen, was los ist? Je öfter du mich störst, desto länger dauert das! Sieh‘ lieber zu, dass du mir einen Kaffee machst. Das hier dauert noch!“

 

Die Kaffeemaschine tröpfelt. Vielleicht stimmt es ja nicht, was berichtet wird. Alles ist so normal und auch wieder nicht. Sie holt aus ihrer Handtasche eine kleine Kekspackung. Die war eigentlich für unterwegs gedacht.

 

„Was ist denn nun schon wieder?“, brüllt Herbert, beruhigt sich aber, als er Kaffee und Kekse sieht. Vorsichtig bahnt sich Hildegard ihren Weg durch die vielen Häufchen von mehr oder weniger sortierten Rechnungen, Belegen und Quittungen.

Streicht ihm über die schweißnassen, schütteren Haare.

„Wie lange brauchst du denn noch?“

„Woher soll ich das wissen? Die denken sich doch alle Naselang was Neues aus! Lass‘ mich bloß in Ruhe!“

 

Leise schließt sie die Tür. April und Mai sind immer schlimme Monate.

 

Das Telefon klingelt. Sie hastet ins Wohnzimmer, damit Herbert durch das Geräusch nicht gestört wird.

 

„Wo bleibt ihr denn? Wieso seid ihr überhaupt noch in Berlin? Wir warten auf euch“, schimpft Helga.

„Ach Kind, du kennst doch Papa. Er wird und wird nicht fertig. Alles muss hundertprozentig stimmen.“

„Spinnt der denn völlig? Denkt er überhaupt mal an dich oder an uns? Jetzt sag‘ ich dir mal was: Du rufst sofort ein Taxi und fährst zum Bahnhof. Wenn da nichts mehr geht, lässt du dich bis zu uns fahren. Wir übernehmen die Kosten.“

„Ich kann doch Papa nicht allein lassen“, empört sich Hildegard.

„Oh doch! Das kannst du! Erinner‘ dich mal, wie oft er wegen seiner Arbeit nicht Zuhause war, dass du ihm immer den Rücken freigehalten hast! Und damals – der abgesagte Urlaub! Keine Rücksprache, keine Diskussion – Null!“

„Ach, Helgakind, er hat doch immer gut für uns gesorgt oder etwa nicht? Hat er nicht versucht, jeden deiner Wünsche zu erfüllen? Die Klassenreise nach Südfrankreich. Dann dein Studium … Und hat er nicht jetzt erst Marvin den Neuseelandflug für sein Auslandsjahr spendiert?“

„Das ist doch völlig egal, Mama! Nimm‘ dir ein Taxi und vergiss‘ Papa!“

„Kind! Du versündigst dich!“ Hildegard legt auf.

 

Mittlerweile laufen die „Rosenheim-Cops“. Vielleicht hat Helga doch Recht? Herbert war nie da gewesen, wenn sie ihn brauchte. Außer bei Helgas Scharlach. Sein Credo: „Kunden sind Kunden und die gehen vor.“ Warum er überhaupt noch den Elektroladen betreibt, wo jetzt doch fast alles über Internet und große Ketten läuft? Außerdem ist er viel zu alt, um noch arbeiten zu müssen. Aber er redet ja nicht mit ihr, vergräbt sich.

 

Hildegard reißt das Wohnzimmerfenster auf. Die frische Luft tut ihr gut. Jetzt oder nie!

 

Ohne anzuklopfen öffnet sie die Kinderzimmertür und verkündet: „Wenn du hier bleiben willst, gut! Ich fahre! Helga bezahlt das Taxi. Notreserven sind im Keller. Von mir aus mach‘ deinen Papierkram, bis du schwarz wirst! Helga und ich sind dir offensichtlich völlig egal!“

 

Herbert schiebt seine Brille hoch, starrt Hildegard an und antwortet sehr bedächtig und sehr leise:

„Ach ja? Meinst du, mir macht das Spaß? Diese ständige Sorge um euch? Und das in meinem Alter? Meinst du nicht, ich hätte mir nicht was anderes erträumt? Ein bisschen Freiheit anstelle der Tretmühle? Ich habe dir immer gesagt, dass du keinen Angestellten geheiratet hast. Bei uns kommt das Geld nicht einfach so auf’s Konto! Ein einziges Mal habe ich dir nachgegeben, da hatte Helga Scharlach. Ihr nehmt es mir aber bis heute übel, dass ich den Italienurlaub nicht bezahlen konnte!“

„Was hat denn das mit heute zu tun? Wir müssen weg!“

 

Herbert nimmt seine Finger von der Tastatur, steht auf und reicht ihr die Hand.

„Nu‘ komm mal her, Alte. In der Ruhe liegt die Kraft. Wenn ich das nicht fertigkriege, bevor die Leitungen zusammenbrechen, dann werden wir geschätzt und haben eine Riesennachzahlung wie damals. Dem Finanzamt ist es piepegal, ob in China ein Sack Reis umfällt oder in Berlin ein Komet runtergeht. Wenn überhaupt. Vermutlich muss ich sogar nachweisen, dass ich nicht mehr senden konnte! Und wenn nicht ich bzw. wir, dann Helga. Hilf‘ mir lieber, dann können wir immer noch rechtzeitig los. Und wenn nicht, …“

 

„… sind im Keller ein paar Flaschen Kunden-Sekt für alle Fälle“, antwortet Hildegard lächelnd.

 

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