Von Uta Lemke

„Ja, ich habe es getan. … Mitten in der Nacht … in ihre Häuser geschlichen, in Gestalt eines Waldkauzes, von niemandem bemerkt, … ihre Seelen gestohlen. … mitschuldig … Ich war nicht allein. Sie auch … Sie haben …. Ja, die Vorwürfe stimmen. Ich …“

Unterbrochen von vielem Rauschen dröhnt eine bekannte Stimme blechern aus dem rostigem Radio in der Ecke des schummrigen Raumes. Es ist eine alte Stimme, die hörbar zitternd dieses Geständnis gibt. Alika hat die alte Frau schon lange nicht mehr gesehen, aber genau wie sie wird das ganze Dorf diese Stimme erkennen. Und sie werden sofort ihre Schlüsse ziehen. „Ich war nicht allein. Sie auch…“ – Wen sollte die alte Frau denn sonst gemeint haben, wenn nicht die Frau, deren Chefin sie einst war? Ebendiese Person, die jetzt mit Schweißperlen auf der Stirn und zitternden Händen auf das Radio starrt als könnte sie die gesprochenen Worte aus der Welt löschen. Die immer noch in der Apotheke ein wenig außerhalb der Dorfgrenze ihre Tränke und Tinkturen mischt und sie unter die Leute bringt. Die doch sowieso schon ein Dorn im Auge der Dorfbewohner ist, schön, jung und unverheiratet wie sie ist. Alika fragt sich schon seit Jahren, wieso der Lynchmob sie noch nicht besucht hat. Sie atmet tief aus und ein, ein und aus und wartet. Lässt Sekunde um Sekunde, Minute um Minute verstreichen und horcht auf die drohenden, näherkommenden Schritte.

Doch das Leben nimmt seinen gewöhnlichen Lauf. Am nächsten Tag steht Alika zwischen den vertrauten Reagenzgläsern und mischt eine Medizin für Amadi, die Tochter von Jabir, die schon seit Wochen schwerkrank im Bett liegt. Alika weiß, dass ihre Medizin nur eine Linderung von Amadis Schmerzen sein wird, aber für eine Heilung bräuchte es teure Medikamente aus dem weit entfernten Krankenhaus und Amadis Familie ist arm. Niemand in diesem Dorf kann es sich leisten und die Krankheit breitet sich immer weiter aus, rafft Kind um Kind hin. Alika kann verstehen, dass sie einen Sündenbock suchen. Aber alte Frauen zu einem Geständnis fürs Radio zu zwingen? Eine Hexenverfolgung, die auch noch von oberster Stelle gerechtfertigt wird? Wenn selbst die angeblich Vernünftigen zu solchen Mitteln greifen, so besessen handeln, was bleibt dann übrig? Hass, ungezügelter, blanker Hass. Niemand hört ihr mehr zu, wenn sie versucht, ihnen zu erklären, was Krankheitserreger eigentlich sind und wie man verhindern kann, dass die Seuche sich ausbreitet. Niemand glaubt ihr, wenn sie ihnen sagt, dass Rituale und Wunderheilmittel ihre Kinder nicht retten werden, dass die Kräuter, die sie in der Apotheke erwerben, auch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sind. Niemand hört ihr zu, zu laut ist das Gebrüll ihres Aberglaubens. Früher haben sie noch etwas von einer „Strafe für die Untaten der Ahnen“ geredet, heute suchen sie nach Hexen. Alika seufzt und legt den Tiegel aus der Hand
und fährt zusammen, als sie das knarzende Geräusch von sich nähernden Schritten vernimmt.

Sie sind da. Mit wild pochendem Herzen hockt Alika unter ihrer Werkbank. Sie hört, wie sich die Dorfbewohner leise murmelnd austauschen, schnappt ein paar Wörter auf: „die alte Hexe“, „falsche Medizinfrau“, „vergiftet“, „unsere Kinder“. Ba-dum, ba-dum, ba-dum. Ihr Herz klopft so dröhnend laut, dass die Dorfbewohner es bis in die hinterste Ecke der Apotheke hören können müssten.
Und Alika presst ihre Hände zu Fäusten, atmet ganz ruhig ein und aus, aus und ein, schließt die Augen und wartet auf ihr unausweichliches Ende.