Von Manuela Murauer

Sophie öffnet die Augen, ihre Handgelenke schmerzen. Sie weiß nicht, wie sie hierhergekommen ist, warum sie hier, angebunden an einen Baum, vor einem kleinen Haufen mit Holzscheiten steht, kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Am Nachmittag war sie noch mit ihrem Hund unterwegs gewesen, Kräuter sammeln.

„Sie ist wach!“, hört sie eine Männerstimme. Sophie möchte sich umsehen, sie ist aber fest und starr mit Händen und Füßen an den Baum gefesselt. Sie richtet den Blick zur Baumkrone. Es ist eine Ulme, die mitten in der Wiese steht.

Plötzlich nähern sich mehrere Gestalten, stellen sich im Halbkreis vor ihr auf. Alle tragen weiße Kapuzengewänder mit jeweils drei eingeschnittenen Löchern vor Augen und Mund.

„Jetzt werden wir dir mal das Fürchten lehren, du altes Weib!“

 

Sophie riecht Blut, ein kleines Rinnsal läuft von ihrer Stirn über das rechte Auge an ihrer Wange hinab.

„Habt ihr mir eins übergezogen? Zwei Hand voll Männer gegen eine alte Frau? Alle Achtung, ihr könnt stolz auf euch sein!“ Sophie lacht heiser auf.

„Dir wird das Lachen noch vergehen“, meint nun ein Weiterer aus der Gruppe.

 

„Was habt ihr mit meinem Hund gemacht? Wo ist er?“

„Der feige Köter hat den Schwanz eingezogen und ist weggelaufen!“ Die Männer lachen argwöhnisch.

 

Sophie schaut in die Ferne, hinter einem kleinen Hügel kann sie den Waldrand erkennen. Ihre Augen suchen die Gegend ab. Dann sieht sie ihn! Zwischen einer kleinen Baumgruppe lugt er hervor, seine Augen fixieren sie. „Hank!“, denkt sie, „mein bester Freund!“. Sophie atmet tief durch und bündelt all ihre Energie, sie konzentriert sich auf ihren Hund und formt mit den Lippen lautlos zwei Worte, sie hofft, er versteht:

„Hole Hilfe!“

„Was machst du da?“ Eine Kapuzengestalt tritt aus dem Halbkreis vor und nähert sich. Sie merkt noch, dass Hank im Wald verschwindet und fühlt, dass er verstanden hat, dann sieht sie in die zwei Augenlöcher des Maskierten. Sophie antwortet nicht, sie starrt weiter auf den Mann vor ihr. Leichter Wind kommt auf, ihre langen, grauen Haare verheddern sich in der Baumrinde, das bodenlange Leinenkleid kringelt sich um ihre nackten Knöchel. Sie spürt die feuchte Erde unter ihren Fußsohlen und ihr Rücken nimmt den Puls der Ulme auf, sie atmet nun mit dem Rhythmus des Baumes.

Am Horizont steigt der Mond langsam in die Höhe, heute ist Blutmond und bevor die Nacht endgültig hereinbricht, taucht der Himmelskörper noch alles in ein sattes Orange.

„Der Himmel brennt“, denkt sie.

Die Kapuzenmänner entzünden die Fackeln in ihren Händen. Der Mann vor ihr ist wohl der Anführer.

„Jetzt lass uns mal zur Sache kommen, Alte. Wir fragen uns schon die längste Zeit, was du mit unseren Weibsbildern machst. Was geht da in den vier Wänden vor, wenn sie bei dir sind? Willst du sie gegen uns aufhetzen? Sie werden aufsässig, das lassen wir uns nicht länger gefallen! Du hast sie verhext.“ Ein anderer aus der Gruppe ergreift nun das Wort:

„Meiner schwangeren Frau hast du versichert, dass ihr die Tropfen, die du verordnet hast, bei der Entbindung helfen werden. Und was war? Sie hat einen Kaiserschnitt gebraucht. Alles Humbug, den du verzapfst!“

„Meine Mathilde kam von deinem Walpurgisfest am Lagerfeuer betrunken nach Hause. Am nächsten Morgen stand kein Frühstück am Tisch und sie hatte den ganzen Tag Kopfschmerzen und war zu nichts zu gebrauchen! Sowas hat es früher nicht gegeben, als du noch nicht hier gewohnt hast. Es ist zum Davonrennen.“

Sophie kann sich ein raues Lachen nicht verkneifen.

„Wie armselig ihr doch seid. Kaum werden eure Frauen wagemutig, denken selbständig, sind lustig und heiter, habt ihr Angst. Dann müsst ihr eine Schuldige suchen, kommt daher, verkleidet wie der Ku-Klux-Klan, und werft mir Hexerei vor? Und dich, Franz, möchte ich fragen – wo warst du, als deine Frau in den Wehen lag? Im Dorfgasthaus bist du gesessen bis spät nachts. Hast dich nicht gekümmert um Frau und Kind!“

 

Ein stürmischer Wind lässt die Flammen der Fackeln züngeln, die Blätter der Ulme rascheln und die Zweige krümmen sich. Die Spitzen der Kapuzen flattern und die Männer greifen nach ihren Masken.

„Du gibst ihnen verhextes Kraut, Tropfen, Salben – allerlei Hexenkram. Unsere Ehefrauen benehmen sich sonderbar, sie hören nicht mehr auf uns. Deine komischen Feste am Lagerfeuer kannst du dir auch abschminken. Ab heute wirst du sie in Ruhe lassen, wir warnen dich! Wehe, du bringst sie nochmal gegen uns auf.“ Die Gestalt vor ihr hat die Stimme erhoben und fuchtelt wild mit ihrer Fackel vor dem Haufen mit den Holzscheiten.

„Was passiert dann? Verbrennt ihr mich auf dem Scheiterhaufen? Man fasst es nicht!“ Sophie hebt ihren Kopf, sieht in die Baumkrone und lacht laut und aus voller Brust. Ihr düsteres Lachen zieht durch die Wiesen, bis hinauf zum Hügel und in den Wald hinein ist ihre Stimme zu hören, vermischt sich mit dem Wind und hält Einzug in die entlegensten Winkel des kleinen Tales und streift sogar das kleine, abgeschiedene Dorf in der Ferne. Den Männern läuft ein kalter Schauer über den Rücken, sie weichen einige Schritte zurück und tauschen Blicke untereinander aus. Abrupt hört Sophie mit dem

Lachen auf, den Blick noch immer in die Krone der Ulme gerichtet, flüstert sie jetzt leise und rau:

 

„In der Nacht des Blutmondes bitte ich dich, meine treue Ulme, Stammfrau der Menschheit, schenke mir Kraft, meine Aufgabe zu erfüllen. Ich lehne mich getrost an dich und verbinde mich mit allen Wesenheiten. Ich wende mich an meine Ahninnen, an alle Pflanzen und Tiere da draußen. Schenke diesen Frauen im Dorf Zuversicht und Hoffnung, erlöse sie von Selbstmitleid und pathetischer Dramatik, lass sie wagen und Neues entdecken…….“ Sophie spricht zunehmend leiser und rauer, ihr Brustkorb hebt und senkt sich in raschem Tempo, ihre Stimme ist nur mehr ein Zischeln.

Die Natur scheint sich plötzlich aufzubäumen, die Erde bebt kaum merklich, als würde sich eine Herde galoppierender Pferde nähern. Ein lautes Tosen ist zu hören, ähnlich einer Meeresgischt, die sich mit dem Wind vereint. Glockengeläute und Trommelwirbel, alles in einem dröhnenden, rhythmischen Mosaik.

 

„Was ist hier los?“ „Um Gottes Willen!“ Die Männer blicken Richtung Himmel und beobachten das Schauspiel. Sophie lächelt und ihre Gesichtszüge scheinen nun zart und jung, sie ist nicht mehr die alte Frau. Der Blutmond steht wie ein Mahnmal hoch am Firmament, leuchtet rot in eine wolkenlose, mit Sternen übersäte Nacht. Plötzlich

erscheint ein Rotmilan vor dem runden Himmelskörper, er fliegt schrill rufend auf die Ulme zu. Ihm folgen Bussard, Habicht und Falke, alle ziehen sie kreischend über den Hügel und umkreisen die Ulme. Der Wind braust auf, das Beben wird stärker und das

Hufgedonner kommt immer näher.

Sophie atmet tief ein und mit klangvoller, jugendlicher Stimme singt sie:

 

„Det er så kaldt her

vinden tok mine siste lauv

Ormen gneg i grunna

kvasst eg eldest

Elden som tek – Liv

 

Djupt or djupet

Hjerte hamrar

Djupt or djupet

Hjerte slår

Lik stein slår gneist

slår gneist til bringas

brisingeld

slår gneist til hjartet

til hug og blod“

 

Der Wind erfasst die Kapuzen der Männer und trägt sie fort, wild gestikulierend laufen sie durcheinander.

„Sie ist wirklich eine Hexe! Kommt, lasst uns verschwinden“, ruft ein älterer Mann. Er stolpert über eine Baumwurzel und fällt mit der Fackel voran in den Scheiterhaufen.

Panisch richtet er sich auf, lässt die Fackel liegen und läuft den anderen hinterher. Das Holz fängt Feuer, der Scheiterhaufen brennt, in der Nähe eines kleinen Dorfes im Allgäu im 21. Jahrhundert.

 

Doch Sophie lächelt, ihre bernsteinfarbenen Augen funkeln, sie schaut Richtung Waldrand. Sie spürt die Wärme der Flammen auf ihren Wangen glühen und hört die donnernden Hufe näher kommen. Und zum Kreischen der Vögel, dem Windgetöse und Meeresrauschen mischt sich nun das Jaulen des Wolfes in der Ferne.

 

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