Von Eva Fischer

Der Morgen graut und mir graut vor dem Montag. Der Handywecker hat mich in die Arbeitswoche gebimmelt. Aber was nützen dunkle Gedanken und so schwinge ich mich aus dem Bett und tapse in das weiß geflieste Bad, schnappe mir meine elektrische Zahnbürste. Brrr.

Das Geräusch stopft die letzten Erinnerungen des Wochenendes in die Kiste mit der Aufschrift: Bitte nicht öffnen! Explosionsgefahr.

Ja, ich könnte explodieren, wenn ich daran denke, dass ich jetzt wieder fünf Tage im Großraumbüro am Computer festgetackert bin und mir die Beschwerden der Kunden anhören muss, die ich nicht zu verantworten habe.

Brr, brr.

Ich schaue in den Spiegel und denke an meinen Chef, der immer chronisch schlechte Laune hat, die er nicht haben dürfte, da doch wir immer von unzufriedenen Kunden angemacht werden, nicht er.

Meine Augenringe formen sich tellergroß. Ich sehe aus wie ein Bluthund. Ich strecke mir die Zunge raus.

Der Frau im Spiegel steigen die Haare zu Berge. Es blinkt in allen Farben, diskomäßig. Habe ich noch Nachwirkungen von irgendwelchen Drogen gestern?  Ich kann mich aber nur an eine Flasche Wein erinnern.

 

„Hi, ich bin die Luci!“, erklingt eine mir unbekannte Stimme. Und dann sehen mich zwei Frauen im Spiegel an, wovon eine definitiv nicht ich bin.

Sie reicht mir ihre Hand.

„Hi, ich bin die Luci!“, wiederholt sie schon leicht ungeduldig.

Etwas verdattert fasse ich ihre Hand. Sie ist ganz warm, ganz menschlich, möchte man sagen, aber wo kommt sie her?

„Na, aus dem Spiegel“, sagt sie, als ob es das Natürlichste der Welt wäre, dass eine Frau im Spiegel wohnt, die nebenbei auch meine Gedanken erraten kann.

Sie setzt sich auf die Klobrille, wirft kokett ihre Beine übereinander und ich sehe, dass sie verschiedenfarbige Strümpfe und Schuhe trägt.

„Und, was machen wir Schönes?“, fragt sie und schaut mich unternehmungslustig an.

„Ich weiß nicht, was du Schönes machst, aber ich muss gleich zur Arbeit“, antworte ich missgelaunt.

„Musst du oder willst du? Wer will schon müssen? Es gibt immer eine zweite Möglichkeit.“

Sie taxiert mich von oben bis unten. „Aber so kann ich nicht mit dir gehen. Zieh dir erst mal was Hübsches an!“

Schon springt sie auf, geht in mein Schlafzimmer, öffnet den Kleiderschrank und reißt eine Jeans nach der anderen vom Bügel.

„Grau, blau, schwarz! Hast du nichts Flotteres?“, rümpft sie die Nase.

„Meinst du kanariengelb? Oder papageiengrün? Oder tomatensaftrot?“

„Zum Beispiel!“

Und flugs zerrt sie eine sonnengelbe Jeans aus der hintersten Schrankecke, die es vormals nicht gegeben hat. Dazu präsentiert sie mir ein blaurotkariertes T-Shirt.

„Ich sehe aus wie ein Clown“, meckere ich.

„Farben sind gut gegen Alltagsgrau und gegen Trübsinn“, klärt sie mich auf. „ Und nun komm endlich!“

Sie packt mich an der Hand und wir stürmen die Treppe hinunter.

Rentner Müller stapft behäbig mit seiner Tageszeitung in der Hand die Stufen hoch. Meine neue Freundin rempelt ihn an, so dass Zeitung und Brille auf dem Boden landen und auch er selbst gefährlich ins Trudeln kommt.

„Passen Sie gefälligst auf Frau Güldenstern!“, schimpft er wütend und ich werde den Verdacht nicht los, dass er meine Begleiterin gar nicht gesehen hat. Diese schiebt mich schon durch die Haustür.

„Ich hatte noch kein Frühstück“, gebe ich zu bedenken.

„Ich auch nicht. Das trifft sich gut“, sagt meine neue Bekanntschaft und führt mich geradewegs zu dem neu eröffneten und mega schicken Hotel, das schon ab 7 Frühstück für seine Gäste anbietet. „Mein Portemonnaie habe ich auch vergessen“, wende ich ein.

„Wofür brauchen wir schon Geld?“

Ich könnte sie jetzt aufklären, dass in der Welt vor dem Spiegel kein Frühstück umsonst zu haben ist.

 

„Wir hätten gern ein Frühstück mit allem drum und dran“, sagt sie zu dem Kellner, der aber immer nur mich anstiert.

„Was verstehen Sie darunter?“ fragt er leicht pikiert.

„All you can eat und vor allem all you can drink“, zwinkert sie mir zu.

„Ganz wie Sie wünschen.“

Nach Brötchen mit Käse und Schinken, Spiegelei mit Speck, Croissants mit Konfitüre, Kaffee und einer Flasche Champagner fühle ich mich etwas angespannt in der Bauchgegend, aber sehr entspannt in der Kopfgegend.

„Und wie machen wir das jetzt mit der Bezahlung?“, flüstere ich.

„Wir machen uns unsichtbar“, kichert meine Begleitung. „Das können wir Frauen doch so gut.“

„Und wie machen wir das?“, hake ich nach.

„Na, wir gehen aufs Klo und klettern durch das Fenster.“

„Und wenn kein Fenster da ist?“

„Dann nehmen wir die Tür.“

Nicht, dass mich diese Antwort beruhigt hätte, aber auf einen Versuch kommt es an, vor allem wenn es keine Alternative gibt.

Um es gleich vorweg zu nehmen, es gab kein Fenster, aber tatsächlich einen Flur, mit einer unverschlossenen Tür am Ende. Welch ein Leichtsinn bei einem solchen Nobeletablissement!

 

Da sprinten wir nun keuchend über die noch wenig bevölkerte Einkaufsstraße. Ein kleiner Junge, vermutlich auf dem Weg zum Kindergarten, schaut mir nach.

„Oma, gibt es noch Hexen?“, wendet er sich an seine Begleiterin. Sie schüttelt verwundert den Kopf.

„Wie kommst du denn darauf?“

Ja, das frage ich mich auch.

Nachdem wir genügend Sicherheitsabstand zum Café erreicht haben, stoppen wir und lassen uns auf den Boden fallen.

„Und was machen wir jetzt?“, will ich wissen. Irgendwie hat sie doch die besseren Ideen.

 

„Jetzt spielen wir das Spiel ‚Was ich dir schon immer mal sagen wollte’“, schlägt sie vor. Ich schaue sie verständnislos an und sie reicht mir mein Handy, das sie offensichtlich hat mitgehen lassen.

„Mit wem willst du anfangen?“

Nach kurzem Überlegen entscheide ich mich für meinen Chef.

„Frau Güldenstern! Haben Sie schon mal auf die Uhr gesehen? Es ist halb elf und seit 8 Uhr 15 sollten Sie an ihrem Computer sitzen und arbeiten“, faucht er mich an, bevor ich ein Wort loswerden kann. „Wenn Sie nicht sofort hier eintrudeln, sind Sie gefeuert.“

Umgehend“.

„Was?“

„Sie sollten umgehend sagen. Das klingt bürokratisch korrekter und Sie sind doch ein Korinthenkacker, ein ewig schlecht gelaunter, humorloser, empathieloser, fauler Sack dazu, der andere für sich arbeiten lässt und dafür das doppelte Gehalt einstreicht und glauben Sie nicht, ich hätte nicht gesehen, wie Sie uns Frauen immer lüstern nachschauen. Not with me!”, feuere ich nach, aber da knackt es bereits in der Leitung.

Mein Chef hat aufgelegt. Schade! Loser! Arschgeige…Ich bin gerade erst in Fahrt gekommen.

 

Meine neue Freundin und ich klatschen uns ab.

„Und wen rufst du jetzt an?“, will sie wissen.

Die Liste der Leute, mit denen man mal Tacheles reden möchte, ist bei näherer Betrachtung tatsächlich lang.

Mein kleiner Bruder, der mein teures Schminkzeug als Grundierung für seine Pickel missbraucht hat, meine Mutter, die sein Verhalten immer und ewig entschuldigt hat, meine Lehrerin, die mir in Mathe ungerechterweise eine Fünf gegeben hat, meine sogenannte beste Freundin, die hinter meinem Rücken mit meinem Freund rumgemacht hat, mein Ex-Freund, der mitgemacht hat, mein Vermieter, der mir schon wieder die Miete erhöht hat…

Ok, alle habe ich nicht erreicht, aber nach diesem Tag würde ich nicht nur ohne Job sein, sondern auch ohne Wohnung. Auf die langweiligen Familienfeste würde ich ab sofort ebenfalls verzichten dürfen.

 

„Der Tag ist noch jung!“ sagt meine neue Freundin und hakt mich unternehmungslustig unter.

„Wir sollten mehr in die Öffentlichkeit. Findest du nicht auch?“

Ich stehe mal wieder auf dem Schlauch, aber sie lenkt unsere Schritte geradewegs zum Rathaus. Davor ist allerdings eine Schlange. Männer in grauem Anzug heben erbost die Faust.

„Nieder mit den Hexenweibern!“ skandieren sie.

„Was soll das bedeuten?“

Meine Freundin zuckt die Schultern.

Da fällt der Blick eines Anzugträgers auf uns.

„Da sind wieder zwei!“, brüllt er. „Schnappt sie euch!“

„Hey, alle mal herhören, ihr Knirpse!“, ruft meine neue Freundin und plustert sich zur doppelten Körpergröße auf.

„Nicht ihr jagt uns, sondern wir jagen euch. Geht das nicht endlich mal in eure Schädel!“

 

Also, ich sage euch, dieser Tag bleibt mir unvergesslich. Denn wir hatten echt viel Spaß mit den Herren, vor allem nachdem sie sich nach und nach ihrer unpraktischen grauen Anzüge entledigt haben, die beim Laufen eher hinderlich waren. Leider wurde am Ende des Tages eine Ausgangssperre verhängt, so dass wir nicht die Nacht durchmachen konnten.

 

Im Radio hörten wir dann, das Hexenvirus sei ausgebrochen. 90 % der weiblichen Bevölkerung sei nicht zur Arbeit erschienen. Man arbeite fieberhaft an einem Gegenmittel. Solange sollten die Frauen das Haus hüten. Das habe ihnen schließlich noch nie geschadet. Und auf jeden Fall sollten sie die Spiegel verhüllen, denn unbestätigten Gerüchten zufolge befinde sich dort die Quelle des Bösen.