Von Kornelia Wulf 

Er fühlt sich glatt und kalt in der Hand an, nur an der Daumenseite druckt seine gezackte Kante ein Muster in meinen Ballen. Ich kreise den Arm, sammle Kraft ein. Acht Augen starren ungeduldig auf Fredi. Dann nickt er endlich. „Los!“, und fünf Steine fliegen hoch durch die Luft. Vier Geschosse verfehlen ihr Ziel. Sie stürzen ab und zerteilen die schmutzig braune Wasseroberfläche des Baches. Aus der Tiefe steigen schmatzende Geräusche auf. Als besäße der modrige Schlamm die Macht, Geröll zu fressen. Nur der Stein von Anton trifft auf das zerlumpte, mit vergilbten Flecken übersäte Stoffstück, das wie eine überdimensionierte Beule geformt hinter dem Brunnenrand hervorlugt. Aus den Löchern der Baumwollbluse sprießen Haare, die auf dunklen Malen wachsen. Anna arbeitet in gebückter Haltung, als die Wurfwaffe ihr verkrümmtes Rückgrat einknicken lässt. Während sie sich mühsam aufrichtet, hallt ein dumpfes Knacken durch die Spätsommerluft. Sie huscht mit trippelnden Schritten auf das Bachufer zu, stoppt dann abrupt ab. Ihre schwarzen Fingernägel krallen sich in den Holzstiel des Dreizacks. Rütteln ihn, bis krümelige Erdklumpen zurück in die Wildwiese stäuben und nur noch die Wurzel  einer aufdringlichen Quecke zwischen den Spitzen weht. Dann holt das verdorrte Weiblein weit aus und schleudert den Unkrauttöter zu uns hinüber. Begleitet von unflätigen Lauten, die über ihre Lippen hüpfen, als laichten Giftkröten in der Kehle.

 

Unser Atem vibriert, er flattert in den Brusthöhlen. Bis verzückte Panikschreie aus uns heraus brechen und wir mit geduckten Buckeln hinter die Büsche der Schafweide flüchten.

 

***

 

Anna. Fast ein Fabelwesen meiner Kindheit und Jugend.

 

Bis zu diesem Abend, nur wenige Tage vor meinem vierzehnten Geburtstag, hatte ich nie darüber nachgedacht und es nie als merkwürdig empfunden, dass Anna meilenweit entfernt von den Bewohnern unseres Dorfes lebte und in der Rangordnung noch tief unter den Hufen der blökenden Schafe dahinvegetierte. Wie ein krankes Glied, abgetrennt mit scharfem Schnitt von dem Skalpell der Verachtung. Selbst die Reste der alten Holzbrücke, die Anna den Weg von ihrer Kate zu Mensch und Tier ermöglichte, schienen sich gegen sie verschworen zu haben. Sie ragten verfault und von Käfern zerfressen aus der stinkenden Brühe des Schlammbaches. Manchmal hörte ich ihr Heulen, wenn sie im Wind aneinander klackerten.

 

Die Alten warnten uns Kinder. „Geht nicht zu nah ans Ufer“, riefen sie. „Haltet euch fern von Anna!“. Und ich sehe es genau vor mir, wie die Großmütter und Muhmen sich bekreuzigten, wenn sie im Frühjahr die Schafe zusammentrieben. Ihr Blick dabei herum lümmelte und über den Bach schweifte. Bis er sich in Annas Dutt verirrte, der geflochten wie ein windschiefes Vogelnest auf ihrem Kopf wippte. Oder sich verlor in ihren Kohleaugen, die aus den Tiefen ihres Schädels glühten. So rasch es ihre krummen Glieder erlaubten, eilten sie dann zur Kirche. Besprengten sich mit Weihwasser und murmelten ihr Rosenkranzmantra. In der Hoffnung, dass Maria den Hauch des Bösen aus ihren Seelen sauge und sie mit heiligem Schutzlack versiegele.

 

Andere munkelten von Elisabeth. Von Annas Tochter. Als Lichtkind Gottes habe sie unsere  Welt betreten. An einem Tag, an dem im Himmel die Erdbeeren besonders üppig blühten. „Ach Elisabeth“, seufzte Lina, wenn wir auf dem Rückweg ins Dorf unsere Fahrräder an die Holzlatten ihres Schafstalles lehnten. Auf den Melkschemeln kippelten, bis Fredis fetter Hintern die Grasnarben küsste. Während wir ihren Worten lauschten, drückte sie uns Schokoladenriegel in die Hand, die seltsam grau aussahen. Manchmal rochen sie nach der grünen Salbe, mit der Lina die Euter einrieb und schmeckten wie Hustensaft. „An jedem Tag, den der Herrgott uns schenkt, hüpfte sie an meiner Tür vorbei. Mit einem Lächeln im Gesicht, das die Sorgen vertrieb. Und wenn ihre Füße die Wiese berührten, schienen die Halme satter zu sprießen.“. Und während Lina nickte, starrte ich stets fasziniert auf die Schokoladenspucke, die sie durch ihre Zahnkrater sog.

„Selbst der grimmige Fritz. Ihr wisst schon. Der immer glaubt, es ist noch Krieg und dem Adolf dreimal am Tag salutiert“, wir nickten eifrig, „er ließ seinen Hasso an der Kette und die Schrotflinte im Schrank. Und als er ganz still neben Elisabeth auf der Bank vor seiner Scheune saß, tropften Tränen auf seine Hand.“

 

Doch dann. Keiner konnte sich mehr genau daran erinnern, wie es passierte. Oder ob es Hinweise gab, die das Unglück ankündigten. Nur Jupp der Bauer glaubte in der Nacht zuvor merkwürdig klagende Schreie vernommen zu haben. Als er am Schlammbach entlang marschierte nach einem Berg Bohnen mit Speck, der in seinem Bauch rumpelte. „Bestimmt ein Käuzchenjunges“, dachte er, „das sein Nest sucht.“ Und Klara, die noch vor dem Morgengrauen quer über die Schafweide zu ihrer Backstube radelte. Sie nahm einen trüben Schein wahr, der sich wie dickflüssiger Eiter hinter Annas Küchenfenster ausbreitete. In dem suppigen Licht hätten sich Schatten bewegt. Spitze. Röhrenförmige. Geformt wie Astgabeln.  

 

An diesem Morgen verschwand Elisabeth.

 

Hinterließ keine Spur. Unsere Väter streiften durch Kornährenfelder, durch Wiesen und Wälder, inspizierten die Schafhütten, um vielleicht einen  Abdruck ihrer Sandalen zu entdecken. Doch auch nach mehrtägiger Suche blieb das Kind verschwunden. Als seien dem Erdboden Lippen gewachsen, die Elisabeth tief in ihren Schlund gesogen hatten. Und später schwor es Klara auf die Bibel und alle darin wohnenden Heiligen. Ein Blitz habe den Himmel zerteilt, aus dem Hörner wuchsen und ein glutroter Schweif, der die Sterne peitschte, bevor er in Annas Kamin hinabfuhr.

 

Unsere Bande versammelte sich am Abend nach der Steinschlacht wie schon viele Male zuvor. Die Erinnerung an dieses Ereignis spult sich ab vor meinen Augen. So scharf und deutlich, als sei es gestern gewesen.

 

Wir sitzen im Gras unter den träge wippenden Zweigen der alten Weide. Ihr dichtes Blattwerk streichelt Schafwollgespinste, die im Zaun wehen. Ich rieche den bittersüßen Fusel, der in Nase und Kehle beißt. Anton hat zwei Flaschen aufgesetzten Blaubeerlikör von seiner Oma stiebitzt. Und noch ein Glas Korn in die zuckrige Flüssigkeit gekippt, die an unseren Lippen klebt. Bert rülpst wie ein Keiler, als Kurt nach dem Hochglanzmagazin in seiner Hand schnappt. Berts Bruder Franz versteckt diese Lustblättchen unter seiner Matratze. „So ein Blödian“, Berts Zunge leiert ein bisschen, „der glaubt wirklich, keiner sieht, wie er sich über die Bräute wälzt.“

Kurt verschwindet hinter dem Busch. Er atmet schwer, als er in den Papiernabel der Blonden sabbert, die ihren roten Fingernagel mit feuchten Lippen umschließt und „Ja, Baby, mach`s mir!“, zu rufen scheint.

Wir lauschen und kichern. Nur ein paar Sekunden. Dann schwappt eine Keuchwelle über die Zweige, die sich ohne Vorwarnung in ein ächzendes Würgen verwandelt. Blau getönte Mettwurstbröckchen spritzen wie aus einem Schlauch mit Überdruck geschleudert und verteilen sich zwischen den Ginsterblüten. „Du Sau“, schreit Bert und schleift Kurt an den Haaren über die Wiese. „Franz bringt mich um!“. Kurts Kinn wackelt unter der Wucht der Fausthaken, als Fredi plötzlich um die Weide biegt. Der Sattel seines Bonanzarades verschwindet fast zwischen den fleischigen Backen. „Man sollte es Hossrad nennen“, denke ich und unterdrücke ein Grinsen. Er sei noch einmal zurück gekehrt nach der Steinattacke, weil er sein Taschenmesser vermisste, haspelt Fredi. Wenn er sich aufregt, stottert er immer ein bisschen.

„Hi-hi-hier war es, ga-ga-ganz sicher.“ Er rennt auf den Bach zu, stolpert fast über eine Baumwurzel. Sein Finger kreist über eine Stelle in der Schlammbrühe.

„Ge-ge-blub-blub-bert hat es. Gespuckt. Wie a-a-aus einem Vu-Vulkan.“. „Der Geist von Elisabeth“, schreit Bert und schickt seinen Worten einen Monsterrülpser hinterher. „Er fordert Rache!“. Und wir schmieden blitzschnell unseren Plan. Sammeln Äste, kauern dicht aneinander gedrängt im Gras und warten, bis das gelbe Fensterlicht verlöscht. Dann gibt Fredi das Kommando. „Los!“, flüstert er und Anton und ich hüpfen über den Bach, während Bert und Kurt auf der Schafseite verharren. Der Mond ist heute unser Freund. Er schickt uns seinen hellsten Schein, beleuchtet die knorrigen Astrinden, die wir wie in Ekstase in die schwarz schimmernde Bachpampe rammen. Mein Arm will schon wimmern wie ein wehleidiges Waschweib, als ich einen Widerstand unter dem Zweig spüre, der auf auf mich zu rollt. „Vorsicht ein Knochen“, will ich rufen. Doch mein Mund klappt zu, als ich Kurts Augen erblicke, die mich anstarren, kreisen, als umwickle Kaa seinen Leib. Ich nehme Anlauf, um über den Bach zu springen und Kurt wach zu rütteln.

 

Dann spießt er mich auf.

 

Ein Holzbrückenveteran, der seinen spitzen Span tief in meinen Fuß nagelt. Während ich schreie, fängt mich die Panik ein und ich glaube das Kitzeln eines Käfers zu spüren, der durch meine Kehle krabbelt. „Hilfe!“, krächze ich. Doch meine Not verhallt im wahnhaftem Geschrei meiner Kumpel, die flüchten, als hätte der Leibhaftige sie berührt. Auch der Mond lässt mich im Stich und verhüllt sein Käsegesicht in einem schwarzen Tuch.

 

Und ich ergebe mich, beuge meinen Nacken. Warte auf Annas Krallenhände, die mich würgen, die meinen Kopf in dem Schlammbach versenken werden…

 

Bis ich ein zartes Rucken wahrnehme. Und Finger spüre, wachsweich wie Frühstückseier, die über meine Haut krabbeln. Anna befreit meinen Fuß mit behutsamen Griff. Salbt meine Wunde, streichelt die Angst aus meiner Seele, tropft kühles Wasser in meinen Mund…

 

Und als ich auf ihren Witwenhöcker starre…ich schwöre es auf die Bibel und alle darin wohnenden Heiligen…wachsen zwei Flügel aus ihrem Rücken.

 

Version 3