Von Agnes Decker

Milenas Hand zittert. Der Schlüssel landet klappernd im Schloss. Sie dreht ihn herum, reißt die Haustüre auf und wirft sie hinter sich zu. Die Glasscheiben vibrieren. Milena lässt den Rucksack auf den Boden fallen und lehnt sich mit dem Rücken an die Tür. Sie ist in Sicherheit.

Mit der flachen Hand wischt sie sich über das schweißnasse Gesicht. Sie schnüffelt unter ihren Achseln. Sie stinkt. Stinkt nach Angst.

„Du stinkst, Milena. Soll ich dir mein Deo leihen?“ Das schrille Kichern schmerzt immer noch in ihrem Kopf.

Milena geht langsam, wie eine alte Frau, durch den Flur zur Küche und stellt sich dort seitlich ans Fenster. So kann sie, von draußen ungesehen, auf die Straße schauen. Nichts. Sie sind weg. Sie geht zur Spüle und dreht den Hahn auf. Dann beugt sie sich über das Becken und lässt das Wasser direkt in ihren Mund laufen. Es ist eiskalt und erfrischt. Sie kann spüren, wie das Wasser durch ihre Kehle bis in den Magen läuft.

Am Kühlschrank hängt ein Zettel. „Guten Appetit meine Süße. Küsschen Mama“, steht darauf. Ein warmes Gefühl breitet sich in Milena aus.

Sie verlässt die Küche und steigt die Treppe hinauf. In ihrem Zimmer zieht sie die Schuhe aus, reißt sich Jeans, Socken und T-Shirt vom Körper, lässt ihre Unterwäsche fallen und läuft ins Badezimmer. Mit letzter Kraft steigt sie in die Duschwanne und dreht das Wasser auf, so heiß wie möglich. Danach sinkt sie langsam an den Fliesen herunter. Sie kauert sich in der Hocke zusammen, umschließt ihre Knie mit beiden Armen und bleibt so sitzen, während das heiße Wasser über ihren Körper strömt und sich mit ihren Tränen vermischt.

Als ihre Mutter nach Hause kommt, sitzt Milena am Küchentisch und stochert in ihrem Auflauf herum.

„Hallo mein Schatz.“ Ihre Mutter stellt die Einkaufstasche auf die Arbeitsplatte und strahlt sie an. „Wie war es in der Schule?“  Milena schaut nur kurz auf, dann beugt sie sich wieder über ihren Teller. Tränen laufen über ihr Gesicht. „Milena, was ist los? Schon wieder?“  Die Mutter hat sich neben

Milenas Stuhl hingekniet und sie fest in den Arm genommen. „Erzähl es mir, mein Mädchen.“

Milena lässt sich in die Wärme der Umarmung fallen. Dann beginnt sie leise zu sprechen. Spricht darüber, wie die Mädchen ihr wieder einmal auf dem Schulweg aufgelauert, sie festgehalten und ihr den Rucksack abgenommen haben. Dann hat Marie ihre Schulhefte in eine Pfütze und die Butterbrote in hohem Bogen ins Gebüsch geworfen.

„Scheiße sollst du fressen, du Schlampe“, hat sie dabei gerufen und einen stinkenden Haufen aus einem Hundekotbeutel in ihre Butterbrotdose gefüllt.  

„So was frisst man doch bei euch zu Hause“, hat Mia, die Schleimerin, gebrüllt und Marie nach Anerkennung heischend  angeschaut.

„Cool Mia“, hat Charlene, die ewige Mitläuferin gerufen. Dann haben sie Milena so heftig geschubst, dass sie neben ihren durchweichten Schulheften in der Pfütze gelandet ist. Kichernd sind sie losgerannt, während Milena sich mühsam aufgerichtet, weinend ihre Hefte eingesammelt und versucht hat, T-Shirt und Jeans zu säubern.

„Um Gotteswillen Kind. Das geht ja jetzt schon fast ein Jahr so und wird immer schlimmer. Morgen nehme ich mir frei und kläre das.“  Mit Tränen in den Augen wiegt die Mutter Milena in ihren Armen. „Mein Mädchen. Mein liebstes Kind“, flüstert sie ihr ins Ohr und ihre Tränen vermischen sich.

Milena schaut auf die helle Hand ihrer Mutter, die sie mit ihrer dunklen fest umklammert. „Warum bist du weiß und ich so schwarz“, hat sie als kleines Mädchen oft gefragt. „Ich will so aussehen wie du.“ Und ihre Mutter hat sie geherzt und geküsst und gesagt: „Du bist wunderschön. Und du bist meine kleine Tochter, auch wenn ich dich nicht geboren habe. Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt. Daran musst du immer denken. Nicht die Hautfarbe zählt, sondern wie es im Herzen aussieht.“

Milena weiß mittlerweile, dass es sehr wohl auf die Hautfarbe ankommt. Auf jeden Fall in ihrer neuen Schule. Letztes Jahr sind sie hierhin gezogen, in die Großstadt. Zuvor ist sie in die Waldorfschule der kleinen Kreisstadt gegangen. Dort war alles gut. Erst an der hiesigen Gesamtschule hat alles angefangen.  Milenas Mutter hat seitdem viele Gespräche geführt, mit der Rektorin, der Klassenlehrerin, dem Elternbeirat. Das seien normale Rangeleien unter Kindern, das dürfe man nicht so ernst nehmen, wurde ihr gesagt. Aber es war immer schlimmer geworden.

An diesem Tag sitzt Milena noch lange mit ihrer Mutter zusammen. Später kommen ihr Vater und die beiden älteren Brüder  hinzu. Der Familienrat tagt bis in den späten Abend.

Ein paar Tage später: Milenas Mutter bringt sie, wie immer seit dem letzten Vorfall,  mit dem Auto zur Schule und liefert sie vor der Tür des Klassenzimmers ab. „Mamakind“ ist noch das netteste, was ihr entgegen schallt.

„Zu den Hausarbeiten. Wer möchte vor der Klasse vortragen?“ Die Klassenlehrerin  schaut erstaunt, als Milena sich meldet. „Milena, du?“ fragt sie ein bisschen ungläubig.

Milena nickt und steht auf. Mit anmutigen Bewegungen geht sie an den Schülerreihen vorbei bis zur Tafel. Sie stellt sich vor die Klasse und öffnet ihr Heft.

„Du kannst auch von deinem Platz aus vortragen.“ Die Lehrerin ist neben sie getreten. Milena dreht sich zur Seite und schaut sie lange an. Dann dreht sie sich wieder zur Klasse um und beginnt zu lesen. Ihre Stimme ist zuerst etwas rau, wird dann aber zunehmend fester und klarer. Melodisch schwingt sie sich in die Höhe und erfüllt den ganzen Klassenraum: „Beim Recherchieren zum Thema Hexenverfolgung habe ich einen Artikel gefunden, der heißt: “ Mobbingopfer sind die Hexen von heute.“

In der Klasse ist es still geworden. Die Schüler und Schülerinnen haben die Blicke von Milena abgewendet und schauen vor sich auf die Tische oder aus dem Fenster.  

„Eine Ausstellung zu diesem Thema wird zur Zeit im Züricher Landesmuseum gezeigt“, liest sie weiter. „Was passiert, wenn sich eine Gruppe zusammenschließt und gegen eine Einzelperson hetzt? Welches Leid muss das Opfer über sich ergehen lassen? Wer sind die Betroffenen und wer die Täter? Die Ausstellung beleuchtet den Umgang mit Sündenböcken: vom Menschenopfer in der Antike über Hexenverfolgung im Mittelalter bis zu Mobbing im Klassenzimmer und reale Beispiele aus sozialen Medien.“

In der Klasse ist es immer noch still. Nur eine Fliege summt unerträglich laut und stößt immer wieder klatschend gegen das geschlossene Fenster. Milena steht da und schaut ihre Mitschüler an, eine nach der anderen, einen nach dem anderen. Stolz steht sie dort, mit hocherhobenem Haupt. Schön ist sie, grazil, mit ihren langen Beinen, ihrer schmalen Taille, den hohen Brüsten und dem feinen, ebenmäßigen Gesicht.

Dann fährt sie fort: „Als ich das gelesen habe, ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Das ist meine Geschichte. Und davon will ich jetzt sprechen, von meiner persönlichen Hexenverfolgung. An dieser Schule. Davon, dass ich die einzige bin, die alleine sitzt. Man hat gesagt, dass es an der ungeraden Schülerzahl liegt. Das stimmt nicht.  Ich sitze alleine, weil ich Milena bin. Genauer gesagt Milena Mekdelawit Asmara, geboren in Eritrea. Auf der Straße gefunden. Eltern unbekannt. Deshalb der Nachname Asmara. Asmara ist die Hauptstadt Eritreas. Eritrea liegt übrigens in Afrika und ist eines der ärmsten Länder der Welt. Heute heiße ich Milena Rosener. Ich wurde adoptiert. Mit drei Jahren haben mich meine weißen Eltern aus dem Waisenhaus geholt. Wer weiß, ob ich sonst noch leben würde.

Seit ich im letzten Jahr in diese Klasse gekommen bin, werde ich täglich verbal und körperlich angegriffen, gedemütigt oder sexuell missbraucht. Die Anführerin ist Marie. Sie misshandelt mich, gemeinsam mit Charlene und Mia. Aber auch die anderen sind Täter, alle die, die zuschauen oder, wie sie, Frau Baumeister, wegschauen.“

„Milena, jetzt reicht es aber“, unterbricht die Lehrerin. Milena schaut sie durchdringend an und fährt fort:

„Erinnern Sie sich daran, Frau Baumeister, wie sie das letzte Mal weggeschaut haben? Marie hatte Charlene und Mia mal wieder befohlen, mich festzuhalten. Ihr anderen habt im Kreis um uns herum gestanden. Dann hat Marie geschrien: „Die hat bestimmt auch eine schwarze Votze.“ Und du Mia hast die anderen aufgefordert: „Sollen wir gucken. Was meint ihr?“ Und als dann alle „Ja, Hose runter, geschrien und geklatscht haben, hast du, Marie mir den Rock hochgeschoben und meinen Slip heruntergerissen. Und sie, Frau Baumeister, hatten Pausenaufsicht und sind weg gegangen. Die Rektorin hat meiner Mutter wieder mal gesagt, man solle solche Kindereien nicht so ernst nehmen. Aber wir nehmen es ernst.“ Milena schaut ihre Mitschülerinnen noch einmal der Reihe nach an. „Wir haben Anzeige erstattet, meine Eltern und ich, gegen Marie, Mia und Charlene wegen sexuellem Missbrauchs und Körperverletzung, gegen Sie, Frau Baumeister, wegen Verletzung der Aufsichtspflicht und außerdem eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Schulleitung erhoben. Draußen steht ein Kamerateam von Frau-TV und macht einen Film darüber.“

Milena holt tief Luft und fährt fort: „Ich möchte ein Zeichen setzen, damit so etwas keinem Menschen mehr angetan wird. Ihr wolltet mich kleinmachen, weil ich anders bin. Das habt ihr nicht geschafft. Ich bin eine Kämpferin. Ich bin Milena Mekdelawit Asmara.“

Während ihrer Rede ist ihre Mutter leise eingetreten. Als Milena geendet hat, tritt sie zu ihr und legt ihr den Arm um die Schulter: „Komm meine schöne, mutige Tochter.“ Hand in Hand verlassen sie den Klassenraum. „Frau Rosener, warten Sie, da kann man doch drüber sprechen.“ Die Lehrerin läuft ihnen hinterher.

 

Milena und ihre Mutter schreiten durch die leeren Gänge der Schule, wie Königinnen, eine mit halblangem blonden Haar und weißer Hautfarbe, die andere mit dunklen widerspenstigen Locken und schwarzer Haut. Draußen vor dem Schultor flackert das Blaulicht. Daneben wartet das Kamerateam. Die Frauen überqueren den Schulhof. Schwarze Hand in weißer Hand. Der Wind spielt in ihren Haaren. Hinter dunklen Wolken blitzt zaghaft die Sonne hervor.