Von Anne Zeisig

„Aber Nelli! Wenn du dein Geburtshaus schließt, dann müssen die Schwangeren fünfzig Kilometer bis ins nächste Kreiskrankenhaus fahren!“

Nellis Mitarbeiterin sortierte Handtücher und Bettwäsche in den Schrank ein. 

 

Ihre Chefin ordnete Papiere auf dem Schreibtisch in die einzelnen Ablagen. Ein Schreiben hielt sie wedelnd hoch.

 

„Hier! Lies das! Sie wollen zukünftig für die Versicherung das Doppelte an Beiträgen!“ Nelli ließ das Blatt sinken und flüsterte. „Und der Gerichtstermin steht auch noch an.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

 

„Du wirst nicht verlieren! Hattest ihr doch eine Überweisung für die Klinik ausgestellt!“

 

„Und dennoch stand sie mitten in der Nacht mit Presswehen vor meiner Tür.“ Nelli schluchzte und vergrub ihr Gesicht in den Händen.

„Ich hatte ihr einen Tag vorher geraten, ins Krankenhaus zu gehen! Und zwar sofort! Die Herztöne des Kleinen waren so schwach. Die Nabelschnur.“ Nelli stand auf und ging zum Fenster. „Ich hätte sofort einen Krankenwagen rufen müssen“, sagte sie erstickt.

 

Ihre Kollegin und Freundin packte sie sanft bei den Schultern und blickte ihr fest in die Augen.

„Sie hat einfach nicht auf dich gehört! Obwohl du alles eindringlich erklärt hast, wollte sie doch unbedingt heim und sich von ihrem Mann in die Klinik fahren lassen.“

 

„Ich hätte sie nicht gehen lassen dürfen.“

 

„Wir konnten beide nicht ahnen, dass sie deinem Rat nicht folgt.“

Nun schluckte auch die Kollegin schwer ihre Tränen hinunter. Hatte Nelli doch einen Kredit für den Anbau aufgenommen, wo Geburts-Vorbereitungskurse stattfinden sollten. Die Arbeiten waren fast beendet.

 

* * *

 

Zeitenwechsel:

 

Marga  kämpfte sich einen Weg durch die keifende grölende Menschenmenge auf dem Marktplatz und stand letztlich vor dem Scheiterhaufen, auf dem die Hebamme Annelli mit gesenktem Haupt und ausgemergeltem Körper festgezurrt war. Die Folter und der Nahrungsentzug ließen ihre Knochen hart unter der faltigen Haut hervorstehen, die übersät war mit Blutergüssen und Verletzungen. Ihr Haar klebte schmutzig und fettig am schmalen Gesicht.

 

„Annelli!“, rief sie zu ihr hoch. „Anneli!“

 

Aber diese war zu schwach, ihre Lider zu erheben. Jedoch ein Zucken in den Mundwinkeln zeigte Marga, dass die Kollegin sie gehört haben musste.

 

Fünf Kilogramm war sie zu leicht gewesen, als das Referenzgewicht es erlaubte. Leichtgewichtiger als andere Frauen. Mit dieser Leichtigkeit konnte Annelie des nachts auf Zaunstecken fliegend ihr Unwesen treiben in der Welt der Kräuter-Dämonen. Das war der Beweis, dass sie eine Hexe war. Eine Herberia, eine Giftmischerin.

 

Marga hatte viel von Annelli gelernt, die sich in der Kräuterkunde bestens auskannte, was letztlich den Frauen unter und nach der Niederkunft von großem Nutzen war. Wo Anneli stets darauf Bedacht war, den hohen Damen wohlgefälligere Tinkturen zu verabreichen mit seltenen Inhaltsstoffen, die den gewöhnlichen Weibern nicht zugänglich waren. 

 

Plötzlich stieß Marga jemand hart in die Seite: „Seid gewarnt! Ich sah, wie Ihr der Abtrünnigen zugerufen habt! Denn ich sage: ‘Die Zauberer sollst du nicht leben lassen!’. So steht es geschrieben im 2. Buch Mose!“

 

Sie duckte sich vor dem Berittenen, tauchte eilig in der Menge unter und lief heimwärts. Das war kein Ort für sie und ihren Gatten, an dem sie leben und ihre Tätigkeit ausüben konnte! Aber es würde für ihn nicht einfach sein, die Felder aufzugeben!

 

Ein Gesandter versperrte ihr den Weg.

 

„Ich habe Euch gesucht! Der Herr schickt mich, da sein Weib in Niederkunft steht! Steigt auf!“

 

„Warum habt Ihr nicht nach meiner Jung-Frau schicken lassen? Sie versteht ihr Werk wie ich.“

 

„Weil die Gnädigste nach Euch verlangt hat! Oder soll ich Euren Mann anklagen lassen, weil er uns in diesem Jahr die Dürre auf die Felder geschickt hat?“

 

„Er? Verantwortlich für die Dürre? Er verdingt sich als Bauer. Auch sein Land bringt keine Früchte hervor.“

 

„Er bringt auch aus Eurem Leib keine Frucht hervor! Das ist ein ungutes Omen!“

 Er schwang sich vom Pferd hinunter, griff ihr unter den Rock zwischen die Schenkel. „Aber ich bin ihm bei der Saat allzu gerne behilflich.“ 

 

Eilig stieg sie aufs Ross: „So bringe er mich zur Gebärenden!“

 

* * *

 

Diese lag verschwitzt, stöhnend und schreiend in ihrem Bett: „Wo bleibt Ihr? Soll ich mich mit einer Stümperin zufrieden geben? Ihr seid die Erfahrenere!“

 

„Handelt!“, befahl ihr der Gatte, „damit sie sich nicht quälen muss! Es ist unser Erstgeborenes!“

 

Annelli zog ihren nassen Umhang aus und warf ihn über den Stuhl, denn es wütete ein arges Gewitter.

 

‘Die Trockenheit hat ein Ende’, freute sie sich.

 

Und tastete den Bauch ab.

 

„Lasst den Saft vom Balsambaum besorgen, welchen ich Eurer Gattin als wohligen Trunk geben will. Und sorgt für gemahlenes Sommerbohnenkraut. Damit bereite ich einen Wickel für den Bauch,  damit sie Linderung spüre.“

 

„Nein!“, schrie die Hochwohlgeborene. „Sie will die Frucht meines Leibes vergiften!“

 

Anneli tauchte einen Leinenlappen in eine Schale mit kaltem Wasser, wrang ihn aus und legte es der Schwangeren auf die Stirn. „Aber nein. Es ist meine Berufung, Euch zu helfen. Und bedenkt, dass die niederen Weiber in Eurer Lage gemahlene Frauenminze mit Beifuß und Stiergalle in Wein zu sich nehmen müssen.“

 

Die Hebamme spreizte die Beine der Niederkünftigen und balsamierte das Scheideninnere mit einem Auszug aus Olivenöl ein, welches Rosen- und Lilienöl enthielt.

 

„Das entspannt und hält den Weg feucht fürs Kind.“

 

Sorgen machten ihr die Herztöne.

 

Als die Niederkünftige sich wehrhaft zeigte, wies Anneli sie mit hochrotem Kopf zurecht: „Wollt ihr, dass ich Eurer Geschlecht mit gewöhnlichem Hühnereiweiß einreibe?“

 

„Wie redet sie mit meiner Gemahlin?“, erboste sich der Gatte, den die Hebamme Anneli eiligst aus dem Raum bugsierte, weil eine  Niederkunft Weibersache sei.

 

* * *

 

Die Freude war riesig über den neuen Erdenbürger von Adel, der von leicht bläulicher Farbe, aber bei vollem Schrei in die Wiege gelegt wurde. Hatte dem Knaben doch die Nabelschnur die Luft genommen.

 

Und Marga stolz im Kirchenamt des Ortes die Geburt dieses Kindes anzeigen konnte.

 

Man brachte sie wegen des anhaltenden Gewitters in der Kutsche heim, wo ihr Mann sie sehnlichst erwartete und in die Arme schloss.

 

„Als ich von der hohen Geburt erfuhr, war ich in größter Sorge.“

 

Sie legte ihr Haupt an seine Schulter: „Der Regen wird die verwirrten Seelen reinigen und die Saat auf den Feldern sprießen lassen.“

 

Marga hegte keine Gedanken, warum sie diesen Ort wärend früher Morgenstnde verlassen wollte, weil der Gatte nun des Abends ihre Sinne vernebelte mit seinem Beiwohnen.

 

Hat sich doch alles zum Guten gewendet.

 

* * *

 

Jedoch hatte das Kind den dritten Tag nicht überlebt. Es vermochte nicht zu Trinken an der mütterlichen Brust.

 

Und der Scheiterhaufen wurde aufgeschichtet für die Kräuterhexe Anneli und ihrem Mann, dem Hexer, weil das Land im Wasser ersoff und die Saat verfaulte.

 

* * *

 

Zeitenwechsel:

 

Nellis Anwalt schüttelte ihr freudig die Hände.

„Ich habe nicht daran gezweifelt, dass wir den Prozess gewinnen!“

 

Auch wurde sie von ihrer Kollegin herzlichst umarmt.

 

„Du hast unser Kind trotzdem auf dem Gewissen!“, zischte der Mann der Klägerin, als er an ihr vorbei ging.

Seine Frau hielt den Kopf gesenkt und blickte Nelli nicht in die Augen.

 

„Mag sein, dass wir gewonnen haben.“

Nelli löste sich aus der Umarmung ihres Rechtsbeistandes. „Aber ich werde das Geburtshaus schließen.“

 

ENDversion