Von Yvonne Tunnat

“Es tut mir sehr leid, Ursula.” Doktor Atiz legt seine Hand auf meine Schulter. Er hat vorher noch nie meinen Vornamen benutzt. Das erst lässt mich seine Diagnose so richtig begreifen. “Sie haben doch sicher auch etwas davon bemerkt, oder?”

Natürlich. Ich kriege schlechter Luft als früher. Seit ich nicht mehr den ganzen Tag auf Krankenhausfluren herumrenne, bin ich eben etwas außer Form.

“Wie lange habe ich noch?”, frage ich ihn. Die meisten Ärzte würden sich jetzt winden. Sich nicht festlegen. Dem Lungenspezialisten diese Karte zuschieben. Nicht so mein Hausarzt. “Zwei Jahre. Drei, wenn Sie Glück haben.”

Mama ist vor zwei Jahren mit fast neunzig gestorben. Und ich schaffe es nicht mal bis siebzig? Ich starre den Arzt an. Mein Mann Karl hätte heute eine todbringende Diagnose bekommen sollen. Bei den ganzen Zigarren. Von Rechts wegen hätte der längst Krebs haben müssen, er hat aber nur eine harmlose Darmkrankheit. Dabei habe ich immer gedacht, er würde vor mir sterben. Viel, viel früher als ich. Anders werde ich ihn doch nicht los. Miete könnte ich niemals aufbringen. Aber das Häuslein, das gehört längst uns.

“Dabei rauche ich nicht einmal”, sage ich laut.

“Das kann man auch vom Passivrauchen bekommen.”

Wir haben ja nur die Wohnküche, Bad und Schlafzimmer natürlich. Und in der Küche klebt Karl untrennbar mit dem Küchensofa verbunden. Jeden Tag. Den ganzen Tag. Nur heute, heute ist er mitgekommen, trennt sich tatsächlich für mehrere Stunden von seinem Küchensofa. Machte sich dann doch Sorgen wegen der Farbe seines Stuhlgangs. Ich organisierte uns beiden einen Termin für die zweijährliche Standard-Untersuchung. Er hat dafür sogar die Hose gewechselt. Dabei habe ich gedacht, auch die sei allmählich untrennbar mit ihm verbunden.

Ich bespreche mit Doktor Atiz die weiteren Schritte. Termin beim Spezialisten. Trotz der Situation genieße ich es, mich mit jemand anderem zu unterhalten als mit Karl. Mein Hausarzt spricht mit ruhiger, tiefer Stimme. Wie er mich ansieht! Mit Respekt. Keine hochgezogenen Brauen. Kein verkniffener Mund. Kein “Du hast schon wieder”, “Mach doch nicht immer” oder “Du vergisst auch ständig”. Fast bin ich glücklich. Doch das lässt nach, sobald ich im Flur stehe und Karl mich fragt: “Was dauert das so lange bei dir? Hast ihn wohl vollgelabert.”

Ich sage nichts. Auch im Auto nicht. Noch während der Heimfahrt bestelle ich mit meinem Telefon die Gefriertruhe. Zwei Tage später wird sie geliefert. Einer der Männer trägt einen grauen Overall, der andere einen blauen. Karl schläft mal wieder auf dem Küchensofa und regt sich kaum, als sie die Truhe hineintragen und unter dem Fenster abstellen.

“Sicher, dass die in der Küche sein soll?”, fragt der Graumann. “Die ist ja doch recht laut.”

“Einen Keller oder einen Vorratsraum haben wir leider nicht.”

Sie erklären und zeigen mir die Handhabung. Kompliziert ist es nicht. Zwei Stunden stehen lassen, dann darf ich schon einschalten. Super! Ich hatte gedacht, einen ganzen Tag. Das ist ein Gefühl wie am 24. Dezember. Ich nicke und unterschreibe. Graumann wirft einen Blick auf den dösenden Karl und rümpft die Nase. Auch ich rieche den essigsauren Geruch seiner Achseln. Dabei hat er in dieser Woche sogar geduscht, wegen des Arztbesuchs. Ich habe beide Fenster zum Lüften geöffnet und auf dem Fensterbrett Kaffeesatz auf einem kleinen Teller gesammelt. Aber man kann es trotzdem riechen. Überdeutlich. Ich wage kaum, den Männern in die Augen zu schauen. Seit bestimmt fünf Jahren war niemand mehr hier. Niemand außer Karl und mir.

Karl wacht auf, noch bevor Graumann und Blaumann verschwinden, und flucht vor sich hin, als er die Truhe sieht. Ich schnappe nur Bruchstück auf wie: Stromfresser, unnötig, viel zu teuer und kaufsüchtig.

Die Männer verabschieden sich und verlassen unser Haus und ich bleibe mit Karl alleine zurück.

Ich schaue auf die Truhe. So weiß. Erst jetzt fällt mir auf, wie gelb alles daneben ist. Die Tapete. Die Küchenschränke. Gelblich braun wie das, was in der Schüssel zurückbleibt, wenn er das Spülen vergisst. Morbus Meulengracht, sagt Doktor Atiz. Leider harmlos.

“Du hast das Telefon doch nur, um Unsinn zu bestellen”, setzt Karl wieder ein. Vielleicht hat er auch gar keine Pause gemacht und ich habe ihn nur zwischenzeitlich ausgeblendet. So wie den Fernseher, der den ganzen Tag läuft, und das Radio dazu. Er hat sein Telefon in der Hand und wischt darauf herum. Guckt auf das Display, statt auf mich. Ich hingegen gucke zur Truhe. Öffne sie. Schaue hinein. Vier Körbe. Na, die kann ich da nicht brauchen. Ich nehme sie heraus und staple sie daneben. Ohne die Körbe sieht es sehr geräumig darin aus.

“Was machst du da? Mach doch nicht so einen Lärm!”

Ich hole einen Hocker und steige mit einem Bein hinein.

“Willst du da einziehen?” Er lacht keckernd und zündet sich eine neue Zigarre an. Sie steckt in seinem rechten Mundwinkel, während er spricht, wie bei Popeye. Ich steige mit dem zweiten Bein in die Truhe, halte mich dabei sorgfältig am Rand fest. Setze mich hin. Beuge den Oberkörper vor bis zu den Beinen.

“Sieht man mich noch oben rausgucken?”, frage ich Karl. Sein Gesicht ist von gelblichem Rauch umnebelt. Und dem hat Doktor Atiz gestern eine passable Gesundheit attestiert. Das ist doch statistischer Unsinn. Er raucht seit sechzig Jahren!

“Klar. Deinen Buckel”, antwortet er.

“Wie viele Zentimeter ungefähr?”

“Soll ich etwa den Zollstock holen?”

Na gut. Viel wird es nicht mehr sein. Außerdem ist Karl ja fast einen Kopf kleiner als ich. Ich klettere heraus.

“Wirst ja doch verrückt auf deine alten Tage”, sagt er, aber mehr zu sich selbst. Etwas auf seinem Display hat seine Aufmerksamkeit erregt. Ich nehme zwei der Körbe, trage sie in die Garage. Kehre zurück. Sie sind zwar nicht schwer, aber sperrig, daher muss ich zweimal laufen. Falls Karl das kommentiert, höre ich nicht zu. Ich schnaufe etwas, nur von den beiden Ausflügen zur Garage. Obwohl ich langsam gegangen bin. Bis vor zwei Jahren war ich ja noch ganztags im Krankenhaus. Doch seitdem habe ich ganztags Karl. Karl in der Küche. Auf dem Küchensofa. Tag und Nacht. Wenn er sich doch mal in unser Bett verirrt und sogar seine Kleidung ablegt, stehe ich sofort auf und stopfe sie in die Waschmaschine. Stelle sie an, auch wenn es mitten in der Nacht ist. Er hat nämlich auch schon mal wieder alles rausgeholt und behauptet: “Das geht doch noch!”

Karl verschwindet im Bad. Ich starre in der Küche auf das Sofa. So sieht es also ohne Karl aus. An den Rändern hat der Stoff kleine schwarze Punkte bekommen. Stockflecken. Die Sitzfläche wirkt, als hätte sie jemand mit Schweinebauch abgerieben. Ich glaube, das kann man nicht neu beziehen. Das Sofa werde ich danach wegwerfen. Ein neues bestellen. Ich würde eh am liebsten eine neue Küche kaufen. Aber das geht ja nicht.

Er kommt zurück. Im Türrahmen sieht er klein aus. Winzig. Vermutlich wiegt er zehn Kilo weniger als ich. Umso besser.

“Schon wieder Kartoffeln?” Er zeigt auf die Papiertüte. “Kartoffeln oder Nudeln, was anderes hast du auch nicht drauf. Kannst dir ja mal was einfallen lassen, jetzt, wo du auf Rente bist.”

Ich setze in Gedanken einen weiteren Strich auf die Liste. Jetzt, wo du auf Rente bist. Das hat er heute erst viermal gesagt. Wie oft ich es wohl vorher noch hören muss?

Er murmelt vor sich hin. Ich bin unsicher, ob er sein Telefon meint, Selbstgespräche führt oder weiter mit mir schimpft, ohne mich dabei anzusehen. Langsam gehe ich am Tisch und am Sofa entlang und stelle mich hinter ihn. Der Toaster steht auf der Anrichte neben mir. Karl beugt sich über sein Handy. Besser wäre ja, er würde sich ein wenig nach hinten lehnen. Ich bücke mich und ziehe den Stecker des Toasterkabels aus der Dose, nehme das Kabel in beide Hände und lasse dazwischen genügend Platz. Eine Taube landet auf der Fensterbank außen. Karl schaut hoch und sagt: “Diese ätzenden Viecher kacken nur überall hin.” Das sind doch letzte Worte, die sein Leben gut abrunden. Und sein Hals ist auch in einer besseren Position.

Ich hebe das Kabel über seinen Kopf, lege es um seinen Hals und ziehe es zu. Der Toaster fällt mit einem Scheppern zu Boden, doch ich zucke nicht zusammen. Ich konzentriere mich. Das ist der Moment, in dem ich nicht nachlassen darf. Wenn er sich nun nach hinten wirft und mich aus dem Gleichgewicht bringt, kann sich das Kabel lockern und das war es dann. Aber er sitzt ja auf dem Sofa. Das steht fest auf dem Boden. Seine Finger greifen nach dem Kabel. Er kann es nicht umfassen, so eng liegt es an seiner Haut an. Mit all meiner Kraft ziehe ich es zusammen, halte es über Kreuz. Lange wird es nicht dauern, dann wird die Blutabfuhr aus dem Gehirn unterbrochen sein.

Er schlägt nach hinten, aber seine Arme sind zu kurz, sein Handrücken streift meinen linken Arm nur. Ich halte und presse Oberkiefer und Unterkiefer zusammen, bis die Backenzähne schmerzen. Die Taube fliegt weg. Karl gibt ein Stöhnen von sich. Sein Körper sackt ein wenig nach unten.

Der tut doch nur so, damit ich lockerlasse!, denke ich. Andererseits weiß ich, dass er nicht so gerissen ist. Trotzdem halte ich weiter fest, lockere nur meine Kiefer. Ich höre ein Summen. Es klingt wie ein altes Kinderlied über einen Käfer namens Karl. Während ich noch darüber nachdenke, merke ich, dass ich es bin, die summt. Da stehe ich und summe, halte zu, halte fest. Inzwischen ist die Taube wieder da. Vielleicht ist es auch eine andere. Sie schaut mit ihren seltsam starren Augen zu uns hinein.

Ich lockere meinen Griff. Karl rutscht tiefer. Ich lasse los. Das Kabel löst sich kaum von seinem Hals, so gründlich hat es sich in sein Fleisch gequetscht. Ich gehe um das Sofa herum. Betrachte ihn. Seine Augen sind blutunterlaufen, der Mund steht offen und sieht seltsam bläulich aus. Zyanose, denkt die ehemalige Krankenschwester in mir.

Witwe. Endlich. Dann kann ich ja die Truhe einweihen. Danach die Küche putzen. Ich habe ja Zeit. Zwei Jahre. Mit Glück auch drei.

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