Von Gabriele Lengemann

Durch die Verandatür der Küche sehe ich am leblosen Körper meines Mannes vorbei in den Garten. Es ist Anfang Mai und nach vielen Regentagen scheint heute Morgen endlich die Sonne. Auf dem Rasen glitzert noch die Feuchtigkeit der Nacht und die Tulpen, die ich vor dem Frost ins Blumenbeet gesetzt habe, leuchten in einem satten, dunklen Rotton. 

Ich blicke auf meine Hände, die eben noch unerbittlich meinem Mann die Luft mit dem Kabel des Toasters abgedrückt haben und nun eine Tasse mit dampfendem Kaffee umfassen. Sie zittern nicht. Nichts regt sich in mir, kein Gefühl der Panik, kein Entsetzen, auch keine Reue. Mein Mann liegt nach vorn gebeugt über dem Küchentisch, das Gesicht seitlich zur Wand gerichtet. Wie ein Riesenbaby, das vom Schlaf übermannt wurde. Der rote Toaster baumelt zwischen den Tischbeinen hin und her. Da, wo normalerweise der Knopf für die Regelung des Bräunungsgrades sitzt, ragen einige Kabel heraus. Der Anblick des defekten, herumbaumelden Toasters stört mich, ich hebe ihn hoch und stelle ihn meinem Mann direkt vor das von mir abgewandte Gesicht.
„Vielleicht willst du ihn ja noch reparieren“, sage ich. 

Ich nehme mir einen frischen Kaffee und setze mich auf die Stufen zur Veranda. Wie konnte ich meinen Mann umbringen, der nie auch nur die Stimme gegen mich erhoben hat?  Diese wunderbare, verführerische Stimme. In die Stimme habe ich mich zuerst verliebt und danach in seine schmalen, schönen Hände.
Meine Gedanken wandern zurück zu dem Tag vor fünfundvierzig Jahren, an dem ich Rolf kennenlernte. Wir waren eine Clique von ungefähr zehn jungen Leuten, die sich abends in einer Parkanlage trafen, Musik hörten, Bier tranken und einfach nur so herumstanden. Irgendwer hat eines Abends Rolf mitgebracht. Mir gefiel der große, muskulöse, blonde Bursche, der so viel Ruhe und Gelassenheit ausstrahlte.  Eines Abends, als wir auf der Wiese saßen und tranken, spielte er Gitarre und sang ein paar Elvis Presley-Songs. Seine tiefe, sanfte Stimme fing mich ein und legte sich um mich wie eine warme, schützende Decke.  An diesem Abend küssten wir uns das erste Mal und dann erlebten wir einen unvergesslichen Sommer.

Meine Eltern mochten Rolf auf Anhieb. „Dein Freund hat goldene Hände“, sagte meine Mutter, nachdem er ihre Nähmaschine und das Transistorradio, das in der Küche stand, repariert hatte. Auch mein Vater lobte Rolf für sein handwerkliches Geschick und seine Hilfsbereitschaft.

Schon im nächsten Jahr haben wir geheiratet. Es wurde ein Anbau am Haus meiner Eltern errichtet, wir bekamen unsere Zwillingsmädchen und alles war perfekt. Ich frage mich, wann es anfing, nicht mehr so perfekt zu sein und muss zugeben, dass ich diejenige war, die durch ständige Nörgeleien und permanent schlechte Laune die Harmonie zerstörte.
Rolf hatte sich im Keller eine Werkstatt eingerichtet und reparierte dort Spielzeug, Küchen- und Elektrogeräte, sogar Fernseher. Kollegen, Freunde, Nachbarn, sie alle wussten bald um Rolfs Fähigkeit, scheinbar aussichtslos beschädigte Geräte wieder funktionsfähig zu machen und schleppten ihr kaputtes Zeug herbei. So saß Rolf oft stundenlang vor einem Berg Elektroschrott, nahm alles auseinander, schraubte und lötete und wirkte dabei tiefenentspannt und zufrieden. 

Ich neidete ihm diesen stillen Glückszustand, in den er beim Reparieren abtauchen konnte, denn ich selbst fühlte mich oft überfordert. Meine Arbeit, die Kinder, der Haushalt, die ständige Bevormundung durch meine Mutter, das alles trug dazu bei, dass ich immer gereizter und übellauniger wurde. Rolf war verständnisvoll, er half im Haushalt und stand oft nachts auf, um die Babys zu versorgen. Stundenlang trug er sie durch die Wohnung, schaukelte sie in seinen Armen und sang ihnen Lieder von Elvis vor. Sie liebten “The wonder of you“ und spätestens bei “ Always on my mind“ schliefen sie ein.

Meine Mutter vergötterte Rolf, während ich ihr nie etwas recht machen konnte. Ich kann mich an einen Abend erinnern, an dem ich wieder herummeckerte, weil Rolf auch nach dem Abendessen noch etwas in der Werkstatt fertig machen wollte.
„Elender Schrottheini“, rief ich durch das Treppenhaus hinter ihm her.
Bevor ich die Tür zuschlagen konnte, sah ich meine Mutter aus ihrer Wohnung in Richtung Werkstatt huschen, sie wollte ihren armen Schwiegersohn wohl trösten. In der einen Hand trug sie eine Flasche “Eckes Edelkirsch“, in der anderen zwei Schnapsgläser. Als sie mich sah rief sie:
„Wieso suchst du dir nicht auch ein Hobby? Dein Mann kann schließlich nichts für deine Interessenlosigkeit. Etwas Sport würde dir guttun“.
Sie warf einen Blick auf meine Hüften, auf denen ich mittlerweile gut zehn Kilo zu viel mit mir herumtrug, und verschwand in der Werkstatt.

Im Lauf der Jahre wurde ich immer mehr zu der keifenden, unzufriedenen Frau, die ich nie sein wollte, und im Grunde kann ich es Rolf auch nicht verdenken, dass er seine Zeit lieber im Keller verbrachte. Weil sich ein Renovierungsstau gebildet hatte, war dort alles mit Elektroschrott vollgestellt. Rolf nahm das Gartenhaus in Beschlag und später auch die Garage. Es kam der Tag, da passten die Autos nicht mehr hinein und werden seither in der Einfahrt abgestellt.
Die Mädchen waren lieber mit ihrem Papa zusammen als mit mir, kein Wunder, bei ihm war es lustiger und friedlicher. Im Sommer veranstalteten sie oft abends ein Picknick im Garten, während ich allein vor dem Fernseher aß. 

Mittlerweile sind unsere Enkeltöchter bereits im Teenageralter, und ich bin immer noch mit einem Mann zusammen, der seine Zeit lieber mit Elektroschrott verbringt als mit mir. Sicher, ich hätte mich scheiden lassen können. Aber eigentlich konnte und wollte ich mir ein Leben ohne Rolf nicht vorstellen.

Seit Ende letzten Jahres sind wir beide Rentner. Silvester haben wir mit Freunden gefeiert. Als Rolf nach Mitternacht Elvis-Songs zum Besten gab, fiel mir auf, dass ihn meine Freundin Eva unverhohlen anschmachtete, und auch er sah ihr, während er “Are you lonesome tonight“ sang, tief und zärtlich in die Augen. Er imitiert Elvis, habe ich mir eingeredet und meine Eifersuchtsgefühle beiseitegeschoben.

Am Neujahrsmorgen haben wir beim Frühstück die Reisen geplant, die wir dieses Jahr machen wollten. Ich hatte in einer Therapie gelernt, meine Gefühlsausbrüche zu kontrollieren und er hat versichert, dass für ihn von nun an unsere gemeinsame Zeit an erster Stelle steht. 

Anfangs schien es, als bekämen wir es hin. Wir fuhren zum Skifahren nach Kärnten und kümmerten uns gemeinsam um den Garten. Für heute hatten wir uns eine lange Radtour vorgenommen, immer am Fluss entlang, und wir hatten sogar eine Übernachtung eingeplant. Ich freute mich und schlief gut und lange in der letzten Nacht. Als ich aufwachte, zog der Duft von Kaffee in meine Nase, und ich hörte Rolf in der Küche hantieren. Ich duschte ausgiebig, zog mir bequeme Sachen an und ging hinunter.
Rolf hatte sich aber noch nicht um das Frühstück gekümmert, wie ich angenommen hatte, nur die Kaffeemaschine lief. 

Mein Mann saß im Schlafanzug am Küchentisch und schraubte konzentriert an einem roten Toaster. Auf dem Stuhl stand sein Werkzeugkasten.  Als er mich hörte, sah er noch nicht einmal auf.
“ Dauert nicht lange, sagte er, ich habe Eva versprochen, ihn schnell zu reparieren. Es reicht ja, wenn wir mittags mit den Rädern starten, oder?“.
Statt zu antworten, nahm ich den Hammer aus der Werkzeugkiste. Ich schlug Rolf damit auf den Kopf und er brach bewusstlos über dem Tisch zusammen. Dann habe ich das Kabel des Toasters um seinen Hals geschlungen und fest daran gezogen.

Evas Auto hält vor der Gartentür sie steigt aus, sieht mich und läuft über den Gartenweg auf mich zu.
„Kann ich mal kurz Rolf sprechen?“, ruft sie.
„Ist gerade ganz schlecht“, antworte ich und will die Verandatür zuziehen, da hat sie sich schon an mir vorbei gedrängt und kniet neben Rolf, der seltsamerweise jetzt auf dem Fußboden liegt. Seine Hände umfassen den Toaster und er stöhnt leise. Eva löst das Kabel von seinem Hals und stützt seinen Kopf.

Ich beobachte die beiden seltsam distanziert, als sähe ich einen Film mit mir unbekannten Schauspielern. Eva nimmt ein Glas aus dem Küchenschrank, füllt es mit Wasser und führt es an Rolfs Lippen. Ganz zärtlich geht sie mit ihm um, ganz vertraut. Die beiden haben schon länger etwas miteinander, wird es mir plötzlich klar und nun weicht meine Apathie und ich reagiere wieder gefühlsmäßig. Ich fühle allerdings keine Erleichterung darüber, dass Rolf noch lebt, nein, Eifersucht durchfährt mich wie ein Blitz und ich werfe Eva einen hasserfüllten Blick zu.

Langsam kommt Rolf auf die Beine. Eva fasst ihn um die Hüfte und er stützt sich auf sie, während sie durch die Verandatür gehen und langsam durch den Garten verschwinden. Sie wollen mit Evas Auto weg, schießt es mir durch den Kopf.
„Hier, nehmt euren Scheiß Toaster mit“, brülle ich hinter ihnen her und schleudere das Ding nach draußen. Ich lasse mich erschöpft auf einen Stuhl sinken und registriere, dass der Toaster fast alle meine Tulpen geköpft hat. 

Als würde das alles noch nicht reichen, sehe ich meine Mutter über die Wiese auf die Veranda zulaufen. Sie trägt einen rosafarbenen Morgenmantel über ihrem geblümten Nachthemd und hält ihn mit den Händen über ihren Brüsten zusammen.
“ Was ist denn bei euch los?“, fährt sie mich an, „und warum umarmt deine Freundin auf offener Straße deinen Mann? Wo ist denn der jetzt? Ich brauch ihn mal kurz“.

Ich muss auf einmal an Elvis Presley denken und an die Redewendung, mit der die Konzertveranstalter nach Ende der Vorstellung den tobenden Fans signalisierten, dass von Elvis keine Zugabe mehr zu erwarten sei und sie nach Hause gehen sollen.
„Elvis has left the building“, sage ich laut und mit fester Stimme.
Meine Mutter schüttelt missbilligend den Kopf, und ich glaube, Verachtung in ihrem Blick zu lesen.
„Dir ist wirklich nicht mehr zu helfen“, sagt sie und rauscht in ihrem hässlichen Morgenmantel aus der Tür.

Ich bin allein.

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