Von Ricarda Köhler

06.30 Uhr – wie jeden Morgen. Dunja sah auf ihren Wecker und seufzte, sie war hellwach – trotz Wochenende. Neidisch warf sie einen Blick auf die linke Bettseite, wo ihr Mann leise schnarchte. Sie betrachtete ihn lange, seine braunen lockigen Haare und sein völlig entspanntes Gesicht. Es waren kaum Falten zu erkennen und sein Alter erahnte man nur anhand der feinen roten Äderchen, die sich auf seinen Wangen und der Nase ausgebreitet hatten. Mit langsamen Bewegungen stand sie auf, das Holzgestell hatte die Angewohnheit zu knarren, wenn sie sich zu schnell bewegte. Ein paar Minuten blieb sie auf der Bettkante sitzen, damit sich das Bett an die neue Position gewöhnte, Peter neben ihr wollte sie nicht wecken. Auf Zehenspitzen schlich sie aus dem Zimmer und schloss die Tür vorsichtig hinter sich. Dunja atmete auf.

Mit einer Tasse Kaffee setzte sie sich auf die Terrasse und genoss die klare Morgenluft. Die Vögel schienen ebenso den Morgen zu genießen, zwitscherten vor sich hin, kämpften miteinander und freuten sich, dass der Frühling da war. Ein Schmetterling ließ sich auf ihre Hand nieder, um sich zu sonnen.

„Na, kleiner Freund – nimmst Du mich mit auf Deine Reise?“

Zärtlich sprach Dunja den Zitronenfalter an, was würde sie um diese Freiheit geben. Der Falter erhob sich und obwohl die Tage inzwischen wärmer wurden, bildeten sich Pickelchen auf ihren nackten Armen. Sie zog die Schultern hoch und erhob sich ebenfalls. Bedauerlicherweise nicht so frei und luftig wie der kleine Schmetterling, sie schlurfte eher ins Badezimmer. Aus dem Spiegel schaute sie eine alte Frau an, deren Sorgenfalten sich über das gesamte Gesicht verteilt hatten. Die Lachfalten von früher waren gänzlich verschwunden. Eilig wusch sie ihr Gesicht und putzte sich die Zähne, duschen würde sie später. Jetzt galt es jede Minute zu genießen. Seit einiger Zeit hatte sie sich angewöhnt, morgens zu meditieren. Fünfzehn Minuten, um ihre Mitte zu finden. Andere hier im Hause hätten es nötiger gehabt, aber sie versuchte ihre Mitte zu behalten.

07.45 Uhr – noch etwas mehr als eine Stunde. Dunja deckte den Frühstückstisch und überlegte, ob sie Brötchen holen sollte. Peter liebte Brötchen am Sonntag, aber, was, wenn es nicht recht wäre. Seit fünf Monaten Kurzarbeit und keiner wusste, wie es mit der Firma weitergehen würde.
08.00 Uhr – eine Stunde. Sie entschied sich für Toastbrot und stellte den Toaster auf den Servierwagen neben dem gedeckten Tisch. Ein Blick in den Kühlschrank ließ sie zusammenzucken. Es war keine reiche Ausbeute darin zu erkennen. Mit leicht zitternden Händen holte sie die Marmelade, den restlichen Käse und die drei Scheiben Wurst heraus und platzierte sie auf dem Tisch. In den Schränken kramte sie nach einem weiteren Glas Honig und einer Dose Thunfisch, damit das Frühstück üppiger wirkte.

08.30 Uhr – eine halbe Stunde. Meistens schliefen die Kinder am Wochenende länger, sodass der erste Ansturm vorbei war. Sie bereitete für sich einen Tee zu und überprüfte die Kaffeemaschine. Wasser – war voll. Reinigung – hatte sie heute Morgen erledigt. Bohnen – Dunja füllte ein paar nach.

„Um 10.00 Uhr ruf ich Nele an, ob sie heute Zeit hat. Dann kann ich mit den Kindern dort wenigstens in Ruhe den Tag verbringen“, überlegte Dunja und starrte zur Decke, wo ein Knarren zu hören war. Sie zuckte zusammen und sah auf die Uhr – 08.50 Uhr.

„Mist!“, entfuhr es ihr „Ist aber heute früh dran!“

Seine schlurfenden Schritte bewegten sich Richtung Badezimmer und Dunja rückte ein Messer gerade. Sie spürte, wie sich unter ihren Achseln Feuchtigkeit breitmachte und die Farbe entwich aus ihrem Gesicht. Die Milch hatte sie vergessen. Hoffentlich war noch welche im Kühlschrank. Ein kleiner Rest in der angebrochenen Packung, sicher würde er reichen.

Dunja setzte sich an den Tisch, schlug die Zeitung auf und tat so, als wäre sie völlig in die Nachrichten vertieft, kurz bevor Peter die Küche betrat.

„Morgen! Ist das eine Scheiß-Nacht gewesen!“, polterte er los.

„Guten Morgen, Peter. Hast nicht gut geschlafen?“, versuchte sie freundlich zu reagieren.

„Nein, sag ich doch!“, antwortete er genervt. Dabei hat er die ganze Nacht geschnarcht, sie hatte wach die Minuten auf der Uhr gezählt.

„Soll ich Dir einen Kaffee machen, Peter?“

„Was sonst? Einen Hagebuttentee?“

Vielleicht würde dich dies ein wenig runterbringen, dachte sie, aber sie wollte ihn lieber nicht provozieren. Die Luft war maximal angespannt, nach zehn Minuten Anwesenheit. Dunja stand auf, um den Kaffee zu brühen und ließ dabei ihren Mann nicht aus den Augen. Sein Blick wanderte vom Tisch auf den Fußboden, immer nach der Suche einen Anlass zu finden.

„Keine Brötchen heute!“, meckerte er.

„Ich dachte, na ja, wir müssen ein wenig aufs Geld achten.“

„Willst Du damit sagen, dass ich die Familie nicht mehr ernähren kann?“

Mit Schrecken hörte Dunja Schritte in der oberen Etage.

„Nein, natürlich nicht“, beeilte sie sich zu erwidern.

Zwei Minuten später stand Niklas im Schlafanzug und barfuß in der Tür. Die Haare standen ihm zu Berge und die Augen waren noch klein vom Schlaf.

„Kannst Du Nichtsnutz nicht wenigstens am Sonntag Dich ordentlich anziehen?“, empfing ihn sein Vater.

Niklas rieb sich den Schlaf aus den Augen und erwiderte:

„Mach ich gleich, Papa, wollte nur einen Schluck trinken, dann mach ich mich fertig!“

„Ist ja klar, bist wohl am Verdursten!“, höhnte Peter und schmiss seinem Sohn die Milchtüte entgegen „Fang, Kleiner!“

Mit einem harten Knall landete die Milch auf dem Boden, die weiße Flüssigkeit spritzte gegen die Wand neben Niklas und die Lache leckte an seinen nackten Zehen. Steif vor Schreck, weil es genau wusste, was jetzt kommen würde, starrte das Kind auf den Boden. Nicht in der Lage, sich nur einen Zentimeter zu bewegen.

„Versager!“, zeterte es auch schon.

Eilig holte Dunja einen Lappen und Küchenpapier, ging in die Knie und säuberte Wand und Fliesen. Peter schubste sie zur Seite, sodass sie in der Milchlache landete.

„Das macht der Nichtsnutz sauber! Ist alt genug! Los, schrubb alles weg, vorher gibt es kein Trinken!“

Peters Gesicht füllte sich von unten nach oben mit roter Farbe, die roten Äderchen, die im Bett so friedlich aussahen, schienen zu platzen. Wie Feuer funkelten seine Augen den kleinen Jungen an, dem die Tränen über die Wangen lief. Niklas beeilte sich, seiner Mutter aufzuhelfen und den Boden zu reinigen. Sein Vater stand dabei breitbeinig neben ihm und beobachtete jeden Handgriff. Immer wieder kommandierte er seinen Sohn rum. Dunja griff nicht ein, denn in dieser Situation war es ratsam, nichts zu sagen, bis der Vulkan verebbt war, sonst würde es für Dunja und Niklas noch schlimmer werden. Ihr T-Shirt klebte mit der Milch an ihrem Körper fest, langsam lief die Flüssigkeit an ihr herunter, aber sie wagte nicht, sich zu bewegen.

Nach fünfzehn Minuten hatte Niklas die Küche fertig geschrubbt, und mit feuchtem Gesicht und zitternden Knien und Händen lief er nach oben, um sich anzuziehen.

„Endlich!“, schrie Peter hinter ihm her. „Und beeil Dich, Deine Mutter hat den Frühstückstisch gedeckt. Weck Deinen Bruder, den Faulpelz!“

Peter setzte sich an seinen Platz am Tisch und griff zu seiner Kaffeetasse. Mit einem plötzlichen Schwung kam die Tasse Dunja entgegengeschleudert.

„Der ist ja kalt! Soll ich kalten Kaffee trinken?“

Die Tasse traf Dunja an der Schläfe, ein lauwarmes Rinnsal floss über ihre Wange und Kaffeegeschmack vermischt mit Blut berührte ihre Lippen. Sie wischte es weg und antwortete gelassen:

„Nein, mein Schatz, natürlich nicht!“

Sie drehte sich zum Kaffeeautomaten, drückte einen neuen Kaffee. Im Augenwinkel sah sie, wie Peter ihr den Rücken zudrehte. Sie zögerte nicht. Nahm das Toasterkabel und legte es um den Hals ihres Mannes.

„Nein, Du sollst nie wieder kalten Kaffee trinken.“

Ein Schmetterling flog durch das offene Fenster und setzte sich auf die Hand von Dunja.

 

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