Von Kerstin Bodenmiller

Martha saß in der penibel aufgeräumten Küche, ihr Blick glitt teilnahmslos über die auf Hochglanz polierten Oberflächen und blieb letztlich an dem Gehäuse ihres neuesten Besitzes haften.  Ein neuer Toaster, ein Toastmaster sogar, nur das Beste auf dem Markt. Noch vor ein paar Wochen hätte sich Martha sicherlich über dieses Geschenk gefreut, das ihr Mann George ihr letzte Woche bereitet hatte, schließlich sollte dieser noble Küchenhelfer jedes Frühstück und Abendbrot durch knusprig goldene Scheiben erhellen. Vor ein paar Wochen hätte sie sich gefreut. Vielleicht. Als die Welt noch in Ordnung war. 

Vom Wohnzimmer nebenan drang das Rauschen des Fernsehers durch die offene Küchentür. Goerge setzte sich immer vor den Fernseher, wenn er von der Arbeit kam. Nicht einmal die Geschehnisse der letzten Wochen hatten ihn dazu veranlasst, seiner Frau Gesellschaft zu leisten, ihr gar Zärtlichkeit zukommen zu lassen. Sie hatte sich damit abgefunden, dass er Zerstreuung im Schoß einer anderen fand, was blieb ihr auch anderes übrig, 23 Jahre Ehe warf man nicht einfach weg. Nein, das war es nicht, was sie störte. Es war der Mangel an Empathie, den sie bedauerte.

Martha erhob sich schwer seufzend und ging zur Tür, von wo aus sie einen guten Blick auf den Röhrenfernseher und die Couch hatte, auf der Goerge es sich Allabendlich gemütlich machte, die Füße in den durchschwitzten Socken auf den Tisch gelegt. Früher hatte sie ihn für dieses unfeine Verhalten gerügt, nun war es ihr egal. Wenn er wollte hätte er auch Nackt durch den Vorgarten tanzen können. Was andere über sie sagen und denken konnten war so unsäglich Nichtig geworden. 

Der Nachrichtensprecher leierte Teilnahmslos die Ereignisse des Tages herunter, ermüdendes Geschwätz, von dem Martha nicht verstehen konnte, warum Männer sich jeden Abend so darauf freuten. Sie wollte gerade zurück in die Küche und den Tisch fürs Abendbrot bereiten, als der Nachrichtensprecher auf das Thema Vietnam zu sprechen kam. Mit sofortigem Interesse schnellte sie herum und trat näher an den Fernseher heran, wobei sie die Luft anhielt. Und mit jedem Wort, dass aus der Röhre drang wurde sie wütender. Dass Kissinger heute Nixon gegenüber erwähnte hatte, dass die genannte Operation Lam Son 719 eindeutig kein Erfolg sei hätte sie bereits vor Wochen sagen können. Dass Politiker erst einen Fehler eingestanden, nachdem der Karren samt Pferd und Kutscher drei Fuß tief im Dreck standen war ebenfalls nichts Neues. Nein, es war die gelangweilte Art, die Ignoranz dieses degenerierten Individuums, das ihren Herzschlag so ungesund beschleunigte, dass sie das Gefühl hatte, gleich losschreien zu müssen. Wie konnte er so unbeteiligt über die Geschehnisse berichten, als wären sie nicht gewichtiger als eine Gartenschau? Sie spürte, wie ihr Gesicht rot angelaufen war, ihre Wangen brannten wie Feuer und stumme Tränen der Wut rannen über ihr Gesicht. Sie hatte das Bedürfnis, die schlimmsten ihr einfallenden Flüche gegen den Fernseher zu schmettern und zum Sender zu fahren, um diesem Lackaffen die Meinung zu geigen, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken und sie konnte nur aufgebracht schnauben. Goerge bemerkte sie erst jetzt. Er blickte kurz zu seiner Frau auf, zog geräuschvoll den Schleim seiner Nase zurück zum Ursprungsort und sagte in abfälligem Ton: „Was heulst du denn schon wieder hier rum? Verschwinde in die Küche, wo du hingehörst! Ich hab Hunger!“. Damit drehte er sich wieder dem Bildschirm zu. Die Grobheit ihres Mannes nahm Martha mit einem Federstreich das Feuer ihrer Wut und katapultierte sie in die abgrundtiefe Leere, die sie seit Wochen heimsuchte. Eine so kühle Reaktion hatte sie nicht erwartet, hätte sie sich nicht vorstellen können. Sie fiel förmlich in sich zusammen. Mit hängenden Schultern und vor den Mund geschlagenen Händen eilte sie in die Küche zurück, wo sie sich leise schluchzend an die Spüle lehnte und still ihre Tränen weinte. Wann waren Goerge und sie sich so gleichgültig geworden? Wie konnte er so vollkommen frei von Trauer sein? War ihm das Geschehene etwa gleichgültig? Ihr Blick viel auf das Schreiben, das mit bunten Magneten am Kühlschrank hing und vor wenigen Wochen eingegangen war. Durch den Tränenschleier konnte sie die Buchstaben darauf nicht erkennen, aber es war auch nicht nötig, sie kannte den Inhalt auswendig. Zeile für Zeile hatte sich ihr ins Gedächtnis gebrannt. Es war das Schreiben aus Vietnam das ihr mitteilte, dass ihr Sohn James am zweiten Januar im Zuge der Operation Lam Son 719  sein Leben gelassen hatte. Sie glitt an der Spüle hinunter, vergrub das Gesicht in den Händen und gab sich mit bebenden Schultern ihrer Trauer hin. Sie hatte alles verloren, was ihr wichtig war, hatten den einzigen Menschen, den sie je bedingungslos geliebt hatte einem sinnlosen Krieg am anderen Ende der Welt geopfert. Ihr James. Das kleine sommersprossige Gesicht, dass ihr mit einem erstaunten Lächeln die Wunder der Welt zeigte. Ihr James, der ihr Makkaronibilder zum Geburtstag geschenkt hatte, der im Regen den Regenwürmern über die Straße half, damit sie nicht überfahren wurden. James, der bei Gewitter ins Schlafzimmer seiner Eltern geschlichen kam und sich an sie gekuschelt hatte, damit sie sich nicht fürchtete. Er war doch noch ein Kind gewesen, gerade erst zur Welt gekommen, unschuldig und rein, als er dem patriotischen Ruf seines Präsidenten folgte und in ein Land reiste, dass sein Grab werden würde.

Martha saß noch immer auf dem Boden, als der Fernseher verstummte und Goerge in die Küche betrat. Er gab einen genervten Ton von sich. Sie musste nicht zu ihm aufsehen um zu wissen, dass er sie wie einen Haufen Unrat ansah, ein Stück Scheiße auf seinem Küchenboden, das konnte sie spüren. Das waren die einzigen Blicke, die er ihr schenkte, seit James nicht mehr war. 

Goerge zog geräuschvoll den Stuhl zurück und setzte sich: „Was ist jetzt los? Ich arbeite jeden Tag hart und du schaffst es nicht mal, Essen auf den Tisch zu bekommen? Mach dich nützlich, verdammt!“. Martha erhob sich mühselig vom Boden und wischte sich die Tränen mit den Händen ab. Ihr Rücken war steif von dem harten Fliesenboden und so bewegte sie sich schwerfällig zum Kühlschank. Goerge stieß verächtlich die Luft aus: „Eine alte Vettel hab ich zuhause, da kann ein Mann doch nicht glücklich werden, sieh dich doch mal an. Mit dir jammerndem Elendsgespenst kann sich ja keiner sehen lassen!“. Martha ignorierte ihn, mehr verletzten konnte er sie heute nicht mehr. Vermutlich war seine bösartige Haltung ihr entgegen seine Art, mit dem Verlust umzugehen. Sie nahm eine Platte aus dem Kühlschrank, auf der Wurst und Käse bereit lagen und stellte sie auf den Tisch. Dann schnitt sie vom Weißbrot ein paar Scheiben ab und ging an ihrem Mann vorbei zum Toaster. Ein verbrannter Geruch nahm die Luft ein, als das Brot gebräunt wurde. Ein lautes Ping beendete die Arbeit des Wunderwerks, sie entnahm die heißen Scheiben und stellte sie vor Goerge ab. Ohne Dank begann er stumm das Essen in sich hineinzuschaufeln und hatte dabei auffallend viel Ähnlichkeit mit einem Schwein. Martha zog angewidert die Nase hoch und begann, den Apparat auszuwischen. Goerge lehnte sich nach der ersten Scheibe Toast zurück und schwatze mit vollem Mund über die Schulter zu Martha: „Ich hab dein Gehabe so satt, meinst wohl ich merke nicht, dass du mir mein fehlendes Mitgefühl vorwirfst.“ Martha umklammerte den Lappen fester, ihr Puls nahm wieder zu, doch sie antwortete nicht. Sollte er doch einen Monolog führen, er beachtete sie nie, also musste er nun auch ohne Gesprächspartner auskommen. Stattdessen zog sie das Kabel des Toastmasters aus der Dose, um es abwischen zu können. Goerge belud sich eine weitere Scheibe Toast mit Schinken und Käse. Kurz bevor er ihn in den Mund schob fügte er noch beiläufig hinzu: „James, dieser Bastard, wäre er mein Sohn gewesen hätte er sich nicht von solchen Schlitzaugen erschießen lassen. Ich bin gottfroh, dass diese Enttäuschung von Mensch wenigstens beim Verrecken noch ein bisschen Ehre für uns rausgeholt hat, Kriegsheld wird man dieses Weichei nennen. Ein Hoch auf Amerika!“ Damit verschwand der Toast in seinem Mund. Und mit ihm auch alles, was Marthas Wut, Hass und Verletzung noch zurückgehalten hatte. Sie fuhr herum, der Schmerz ihrer steifen Glieder wie weggeblasen, ihre Hände schnellten mit dem Kabel nach vorne und legten sich mit erschreckender Geschwindigkeit um den Hals ihres Mannes. Mit einer Kraft, die sie sich selbst niemals zugestanden hätte zog sie zu. Goerge gab einen erstickten Laut von sich, erschrocken warf er den Toast davon, seine Finger fuhren hastig an das Kabel, das seine Luftröhre abschnürte, doch sie fanden keinen Halt. Er bäumte sich auf, wieder und wieder stießen seine Knie gegen den Küchentisch und beförderte den Teller mit seinem Abendessen auf den gebohnerten Boden. Halbgekautes Essen trat aus seinen Mundwinkeln und lief breiig über Wangen und Hals. Martha ließ nicht los. Ihre Wut nährte ihre Kraft. Die Anstrengung trieb ihr den Schweiß auf die Stirn, sie atmete schwer, ihr Herz war kurz vor dem Zerspringen, doch sie ließ nicht los. Dieses Monster musste sterben, diese Kreatur, die das einzig Gute, das sie hervorgebracht hatte, verleugnete. Niemals würde sie zulassen, dass dieser Drecksack das Andenken an ihren geliebten James erneut mit solchen Worten beschmutzte. Zwischen zusammengepressten Zähnen stieß sie hervor: „Stirb, Goerge, sei ein Held. Für das Heimatland, Goerge, ein Hoch auf Amerika!“. Und mit einem letzten Kraftakt, indem sie das Kabel noch fester zuzog, erschlaffte ihr Mann in ihrem Griff. Sie hielt den Druck noch ein paar Augenblicke aufrecht, ehe sie den Griff um das Kabel löste. Danke für das Geschenk, Mistkerl, dachte sie sich, als der leblose Leib ihres Mannes vom Stuhl auf den Boden rutschte. Sie betrachtete die leeren Augen, die zu ihr hochstarrten und zum ersten Mal seit Wochen verspürte sie Frieden und Ruhe, denn nun hatte ein Mensch den Tod gefunden, der ihn auch verdiente.