Von Miklos Muhi

Die Tastatur klapperte leise in der nächtlichen Stille des Ladens. Vor dem PC saß Daniel und arbeitete an den Bestellungen.

Normalerweise war die Nacht der Buchhaltung vorbehalten. Je näher jedoch das orthodoxe Osterfest rückte, desto mehr Kunden kamen tagsüber. Daniel war sich sicher, dass vieles vom gekauften Zeug selbst hochwertige Sachen, in denen viel Arbeit steckte, im Müll landen würde. Das tat ihm leid. Nach einer unsäglichen Karriere als Heroinsüchtiger in den Gossen der Stadt und nach seiner Begegnung mit Vlad, hatte er den Wert der Arbeit schätzen gelernt.

Vlad saß hinter der Kasse und las eine fremdsprachige Zeitung.

»Heute Nacht bekommen wir Besuch«, sagte er und blätterte um.

»Kommen jetzt die Kunden auch in der Nacht? Ist das schon wieder irgendein Brauch, von dem ich nichts weiß?«, fragte Daniel.

»Nein. Nächtlich ist nur die Auferstehungsmesse in Marathonlänge vom Ostersamstag zum Ostersonntag. Das ist das einzige Mal im Jahr, wenn die fetten pädophilen Parasiten in Gold bestickten Roben sich wirklich anstrengen müssen.«

»Ist einer der Putzkräfte ausgefallen?«, fragte Daniel.

»Nein, Heinz und seinen Kameraden geht es den Umständen entsprechend gut. Heute geht es um Dich.«

Das Klappern verstummte.

»Habe ich etwas falsch gemacht?«, fragte Daniel.

»Nein, hast Du nicht«, antwortete Vlad und blätterte um.

»Worum geht es denn?«

»Das wirst Du schon sehen. Aber mach Dir keine Sorgen. Alles ist gut und wir haben alles Mögliche getan, damit das auch so bleibt.«

»Und was soll ich jetzt machen?«

»Die Bestellungen abschicken, aber wie der geölte Blitz. In Rumänien ist es eine Stunde später. Das heißt, dass in der Backstube in Târgovişte die Backöfen bald aufgeheizt werden. Wir sind nicht die Einzigen, die Boromir-Cozonacs zum Osterfest anbieten wollen. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst«, antwortete Vlad.

Kurz nachdem Daniel die Bestellung per E-Mail verschickt hatte, klingelte die kleine Glocke über der Tür. Ein Mann betrat den Laden. Für die nächtliche Frische war der Dreiteiler, den er trug, zu dünn.

»Gute Nacht Vlad«, sagte der er. »Immer noch am Leben? Wenn man das als Leben bezeichnen kann, versteht sich.«

»Gute Nacht, Bruderherz. Arbeitest Du immer noch bei der Abteilung für Untote? Wenn man das als Arbeit bezeichnen kann, versteht sich«, sagte Vlad und legte seine Zeitung weg.

»Manches ändert sich nie«, sagte der Mann.

»Doch alles ändert sich. Zum Beispiel siehst Du ganz schön mitgenommen aus, wenn man bedenkt, dass man Dir damals den Beinamen ›der Schöne‹ gegeben hat«, sagte Vlad.

»Lassen wir das lieber. Ich bin nicht privat hier.«

»Was Du nicht sagst. Aus eigenem Antrieb besuchst Du mich nie.«

»Es geht um Deinen Lustknaben«, sagte der Mann und zeigte auf Daniel.

Daniel fühlte, wie kalte Wut in ihm aufstieg. Er stand auf, aber Vlad zeigte wortlos und ohne ihn anzuschauen auf den Stuhl. Er setzte sich wieder hin. Seine Muskeln waren angespannt und er selbst bereit zum Sprung.

»Ich weiß jetzt, warum man Dich geschickt hat«, sagte Vlad. »Mit Lustknaben kennst Du Dich aus erster Hand aus, Radu. Oder sollte ich Dich lieber Frau Mehmed II nennen?«, fragte Vlad.

»Nicht schon wieder diese alte Geschichte. Warum machst Du das?«, fragte Radu.

»Zum Beispiel, weil Du mich mithilfe der Janitscharen des Sultans viermal vom Thron gestoßen hast.«

»Du bist auch kein Heiliger. Du hast meine Frau geschwängert«, sagte Radu.

»Du wolltest Sie nicht schwängern. Du hast Dich fast jede Nacht in Frauenkleidern in der osmanischen Garnison herumgetrieben. All die einsame, notgeile und durchtrainierte Soldaten …«

Daniel räusperte sich. Radu und Vlad verstummten und schauten ihn an.

»Meine Herren, da das Ganze etwas mit mir zu tun hat, möchte ich wissen, was hier lost ist«, sagte Daniel.

Radu und Vlad brachen in lautes Gelächter aus.

»Wir begrüßen uns immer so«, sagte Radu.

»Die Taten unserer hitzigen Jugendjahre sind vergeben, aber nicht vergessen. Würden wir das alles immer herunterschlucken, wäre das selbst für uns nicht gesund«, sagte Vlad.

»Es tut mir leid, Euch unterbrochen zu haben«, sagte Daniel.

»Kein Problem. Wir haben eh anderweitig zu tun«, sagte Radu.

Er holte ein Stück Pergament aus der Tasche seiner Weste und faltete es auseinander. Er nahm Haltung an, räusperte sich, schaute Daniel in die Augen, deutete ihm an, aufzustehen, und fragte:

»Bist Du Daniel Wolf?«

»Ja«, antwortete Daniel.

»Mein Name ist, wie Du das schon weißt, Radu. Ich komme von der Abteilung für Untote. Du wurdest vor genau sechs Monaten, sechs Wochen und sechs Tagen von Vlad gebissen. Du warst in dieser Zeit unserem Stand treu geblieben, Deine Stelle in unserer Gesellschaft gefunden und Dich nützlich gemacht. Ich muss Dir deshalb folgende Fragen stellen: Willst Du endgültig in den Kreis der Untoten aufgenommen werden?«

»Ja«, antwortete Daniel, wie aus der Pistole geschossen.

»Willst Du weiterhin ein nützliches Mitglied unserer Gesellschaft sein?«

»Ja«, antwortete Daniel.

»Ich, Radu Drăculea der Schöne, Prinz von der Walachei und Leiter der Abteilung für Untote, nehme ich Dich hiermit in unsere Gemeinschaft auf«, sagte Radu und reichte ihm das Pergamentblatt.

Daniel nahm es ehrfürchtig entgegen und schaute es an. Die Urkunde war in einem archaischen Rumänisch mit geschwungener kyrillischer Schrift verfasst.

»Danke«, sagte Daniel.

»Es gibt nichts zu danken, Daniel«, antwortete Radu. »Nur weiter so! Hätte nie gedacht, dass Vlad, der alte Tollpatsch, so etwas zustande bringen kann.«

»Ich geb‘ Dir gleich Tollpatsch, Bruderherz«, knurrte Vlad, fasste unter den Tresen und setzte eine große Flasche neben der Kasse ab. Er nahm auch drei kleine Gläser aus einer Schublade und schenkte aus der silbern schimmernden Flüssigkeit ein.

»Habe ich letztes Jahr gebraut«, sagte Vlad. »Quecksilber, Tollkirschen, Silberjodid und Silbernitrat, alles von bester Qualität. Es nennt sich Tollpatsch und ist nichts für Sterbliche.«

Jeder nahm sich ein Glas. Daniel schnupperte neugierig daran.

»Aufs wohl! Willkommen bei uns, Daniel«, sagte Radu.

 

Târgovişte (deutsch Tergowiste oder Tergowisch): Stadt im Süden von Rumänien, unter Vlad Țepeș Hauptstadt der Walachei (siehe unter https://de.wikipedia.org/wiki/T%C3%A2rgovi%C8%99te)

 

Boromir-Cozonacs: Eine besondere Art von Cozonac für festliche Anlässe (siehe unter https://de.wikipedia.org/wiki/Cozonac)

 

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