Von Angelika Zeising

27.07.2007

Liebes Tagebuch,

es ist etwas Seltsames passiert.
Ich hab heute Nacht von meinem Vater geträumt. Ich weiß nicht, ob ich jemals zuvor von ihm geträumt hab. Und wenn erinner ich mich nicht.
Ich bin noch immer ganz aufgewühlt. Ich träume nie von ihm.
Normalerweise ist es meine Mutter, die meine Träume zu Alpträumen macht. Da helfen auch keine zighundert Kilometer Entfernung oder die Funkstille, die seit Jahren zwischen uns herrscht. Sie schafft es trotzdem, mich zu drangsalieren und meinen Puls auf unangenehme Weise in die Höhe zu treiben.
Aber der Traum mit meinem Vater war ganz anders. So wie er.
Wir waren auf dem Flugplatz, auf dem wir früher als ich klein war, schon gewesen sind. Dort haben wir wie damals einen großen Drachen steigen lassen und er hat mir eine Cola spendiert. Die Sonne hat geschienen und er hat ausgelassen gelacht. So habe ich ihn lange nicht mehr gesehen. Vollkommen befreit und glücklich hat er gewirkt.
Ob er nach unserem Kontaktabbruch jemals wieder so zufrieden war, wie er in diesem Moment in meinem Traum gewirkt hat? Ich hoffe es. Denn die Wahl sein Leben, ohne seine Kinder zu fristen, hat er selbst getroffen.
Nach dem Flugplatz waren wir dann plötzlich zu Hause in meinem alten Elternhaus. Wir haben in der kleinen Dachgeschosswohnung auf der Couch gesessen und einen Horrorfilm geschaut. Als es gruselig wurde, nahm er mich in den Arm und ich konnte mein Gesicht in seiner Umarmung verstecken, um das Grauen auf der Mattscheibe nicht sehen zu müssen.
Leider haben seine Beschützerinstinkte im wahren Leben nicht immer so gut funktioniert. Sonst hätte er nie zugelassen, dass unsere Mutter ihre Probleme auf uns Kindern ablädt und unsere emotionale Abhängigkeit von ihr und unserem Vater so schamlos ausnutzt und missbraucht.
Ich habe lange gehofft, dass er selbst nur Opfer ist. Sogar nachdem er meine Schwester höchst persönlich darum bat aus seinem Leben zu verschwinden.
Doch dann hat er auch mir klar gemacht, dass ihm nichts an unserer Vater-Tochter-Beziehung liegt, als er bei unserem letzten Telefonat meinen Versuch ihm meine Gefühle zu offenbaren mit einem trockenen: „Ja gut dann, ich akzeptiere deine Ansichten“, abgespeist hatte und sogleich übers Wetter reden wollte.
Da wurde das, was ich schon lange geahnt hatte, nämlich dass es keine Hoffnung mehr für uns gibt, bittere Realität. Und er hatte es so entschieden.
Merkwürdig, dass er mir jetzt, nachdem wir seit über zwei Jahren keinen Kontakt mehr hatten, in einem Traum erscheint, indem er dann auch noch so anders ist, als ich ihn das letzte Mal erlebt hab.

17.08.2007

Liebes Tagebuch,

es ist etwas Unglaubliches passiert.
Ich hab heute Abend meinen Vater getroffen!
Ich kann es noch immer nicht richtig glauben.
Deshalb muss ich es schnell aufschreiben.
Ich war nach der Arbeit in der Stadt unterwegs. Nachdem ich meine Besorgungen erledigt hab, bin ich noch eine Runde durch den Stadtpark.
Und da plötzlich steht er vor mir. Einfach so, nachdem wir uns über fünf Jahre lang nicht gesehen hatten.
Es war auf dem Hügel, von dem aus man einen wunderbaren Blick über den kleinen Parksee hat. Ich war ihn gerade hinauf marschiert und als ich oben ankam, stand er da, so als erwartete er mich bereits.
Ich war so perplex, dass ich gar nichts sagen konnte.
Er hingegen hatte diesmal mehr als das letzte „Ja, gut dann“ für mich übrig.
„Hallo mein Schatz“, hat er mich begrüßt und ich konnte mich noch immer nicht rühren.
„Wie geht es dir?“, hat er gefragt und als ich nicht geantwortet hab, sah er verlegen unter sich. Es dauerte einen Moment, bis ich mich überwinden konnte und es schließlich schaffte einen Ton heraus zu bringen.
„Warum bist du hier?“, hab ich ihn gefragt. Das war das Erste, was mir in den Sinn kam.
„Wegen dir“, hat er geantwortet und sah mich wieder an. Ich konnte die Tränen, die mir sofort in die Augen stiegen, einfach nicht zurückhalten.
„Es tut mir leid“, sagte er dann und auch seine Augen wurden glasig, während er weitersprach. „Du bist sicher sehr wütend auf mich. Das kann ich dir nicht verübeln. Ich habe keine Zeit dir alles zu erklären, aber ich wollte dir wenigstens sagen, dass es mir leid tut.“
Meine Emotionen überwältigten mich. Wie oft habe ich mir gewünscht, dass er genau das damals am Telefon zu mir gesagt hätte, anstatt mich mit dieser schmerzhaften Gleichgültigkeit, die er stattdessen an den Tag gelegt hatte, abzuwiegeln.
Aber damals tat er es nicht. Damals hatte er kein Interesse an mir. Damals zählte nur, dass es ihm gut ging und dass Mutter ihren Schlaganfall überlebt hatte und das, obwohl wir Kinder nicht da gewesen waren.
Ja sie brauchten uns nicht, denn sie kamen gut alleine zurecht.
Aber heute stand er da und entschuldigte sich für all das. Für all das, was er getan hatte und für all das, was er nicht getan hatte. Er nahm mich in den Arm, wie in meinem Traum und ich vergrub mein tränenüberströmtes Gesicht in seiner Jacke, die genauso wie früher als ich klein war, nach seinem Aftershave roch.

07.09.2007

Liebes Tagebuch,

es ist etwas Schlimmes passiert.
Ich habe heute Mittag einen Brief bekommen. Vom Amtsgericht.
Noch immer zittern meine Hände, während ich das hier schreibe.
Als ich den Umschlag aus dem Briefkasten zog und den Absender las, wusste ich sofort, was los war. Ich weiß nicht warum, aber ich wusste auch sofort, dass es um meinen Vater ging. Und nicht um meine Mutter. Ich schäme mich. Denn in diesem Moment hatte ich mir gewünscht, dass es anders sei.
Ich wollte es einfach nicht glauben. Ich hatte doch gerade erst von ihm geträumt, ihn sogar vor wenigen Wochen getroffen.
Wir hatten befürchtet, dass ein solcher Brief irgendwann eintrifft.
Aber insgeheim hatte ich gehofft, dass es nicht so weit kommen und unsere Mutter doch noch einen letzten Funken Anstand besäße und uns eine solche Nachricht selbst übermitteln würde. Doch es scheint so, als hätte ich bis zuletzt schier unerfüllbare Erwartungen an sie gehabt.
Mein Herz raste wie verrückt, als ich den Umschlag aufriss. Obwohl mir klar war, was mir bevorstand, war ich ansonsten ziemlich gefasst. Ich hatte meine Finger beim Herausziehen des Briefes weitaus besser unter Kontrolle wie jetzt gerade.
Als ich dann anfing zu lesen, ließ mich meine Abgeklärtheit jedoch im Stich. Mit jedem Wort, das ich überflog, wurden meine Knie weicher und meine Sicht unschärfer.
Ich musste das Schreiben mehrmals lesen, um zu begreifen, was dort stand.
Unser Vater war am 27.07.2007 verstorben und das Gericht teilte mir mit, dass ich einen Anspruch auf Einforderung meines Erbanteils habe.
Mein Herz setzte einen Moment aus. Das Einzige, an das ich denken konnte, war unsere Begegnung. Wie konnte das sein?
Sie war erst vor drei Wochen, aber er – er ist bereits an dem Tag gestorben, an dem ich von ihm geträumt hatte.
Noch immer schnürt sich mir die Kehle bei dem Gedanken daran zu.
Hatte ich von ihm geträumt, um ihn noch ein einziges Mal so zu erleben, wie ich ihn am meisten liebte, bevor er mich schließlich für immer verlassen würde?
Aber wie konnte er mir dann im Park begegnen? Soll das Einbildung gewesen sein?
Ich rief meine Schwester an. Auch sie war vollkommen aufgewühlt und verstand zunächst nicht, was passiert war. Wir redeten sehr lange und erinnerten uns gemeinsam an die Vergangenheit.
An die guten, aber auch die schlechten Momente. An all das, was unser Vater bedingungslos für uns getan hatte und all das, was er bedingungslos für unsere Mutter getan hatte und wie wir und unsere Familie dabei auf der Strecke blieben.
Irgendwann wurden wir beide ganz still.
Dann plötzlich fragte meine Schwester mich, ob unsere Oma womöglich mit ihrem Glauben Recht behalten sollte. Während unseres Telefonats konnte ich ihr darauf keine Antwort geben. Aber jetzt, da ich aufgehört habe zu weinen und mir den heutigen Tag von der Seele geschrieben habe, glaube ich, dass ihre Vermutung zutrifft. Denn es ist die einzige tröstliche Erklärung dafür, dass mein Vater mir erschienen ist.
Ich glaube nicht an Gott, aber ich glaube an die Existenz unserer Seelen und ihre Unsterblichkeit. Umso mehr Sinn macht das, was unsere Oma uns Kindern früher immer erzählte. Und zwar, dass die Seele erst ihren Frieden im Jenseits finden kann, wenn sie ihn auch auf Erden gefunden hat.

 

V1 – 8.212