Von Gerd Schmidinger

Drei Wochen nach der Beerdigung fing es an. Kurt saß auf seinem durchgewetzten Ledersessel, wie immer, im halb offenen beigen Bademantel, die Zigarette nachlässig im rechten Mundwinkel, und starrte vor sich hin. So, wie er es immer gemacht hatte. Eine hässliche Karikatur männlicher Bedeutungsschwere, undurchdringlich, ohne Kommunikation nach außen. So war es immer gewesen, mit dem Unterschied, dass sie ihn in den ersten Ehejahren attraktiv gefunden hatte. Auch damals hatte er so breitbeinig dagesessen und dabei vor sich hingestarrt. Sie konnte nicht mehr nachvollziehen, was sie daran attraktiv gefunden hatte, damals, in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Und nun – nun war er tot, unter der Erde, und trotzdem saß er wieder da in seinem Sessel. Magda fand das unanständig. Sie hatte sich an den Gedanken gewöhnt, in Zukunft mehr Zeit für sich und ihre Freundinnen zu haben. Und jetzt? War er wieder da und machte keine Anstalten fortzugehen. Sie kannte seine Bewegungen auswendig. Wenn er seine Linke mit anklagender Hilflosigkeit hob, wollte er ein neues Bier. Wenn er suchend mit zitternder und qualmender Rechten um sich blickte, stellte sie ihm den Aschenbecher hin. Und wenn er fordernd auf seinen schlaffen Bauch klopfte, wusste sie, dass es Zeit zu kochen war. 

  Die letzten Wochen hatte sie sich frei gefühlt. Kein Mann-Automat im Sessel, der ihr nur Arbeit machte. Sie blickte ihn an, wartete auf eine Geste, die sie noch nicht kannte. Schließlich war er von den Toten zurückgekehrt, vielleicht hatte das etwas mit ihm gemacht. Hilflos hob er seine Linke. Sie seufzte, ging zum Kühlschrank, holte ihm sein Bier. Offenbar war er ganz der Alte. Aber sie – sie hatte sich verändert, hatte von den letzten Jahren nun etwas anderes erwartet. Heute Abend war sie verabredet, mit Sybille. Ob er etwas sagen würde, wenn sie das Haus verließ?

  Doch Kurt sah sie nur stumm an, als sie in ihrem neuen Abendkleid durch die Türe ging. Vielleicht war er ja doch ein bisschen weniger unangenehm als der alte Kurt, dachte sie und schmunzelte. 

   Magda beschloss, Spaß zu haben. Mit Spaß konnte man Kurt immer schon am besten vertreiben. Sie bestellte einen Gin Tonic, Sybille einen Aperol Spritz. Nochmal eine Runde. Und noch eine. Irgendwann kam Toni, der alte Schwerenöter. Er konnte reden, im Gegensatz zu Kurt. Lobte ihre immer noch beachtliche Figur. Schmeichelte ihrem Intellekt und hörte ihr zu, wie sie von ihrem letzten gelesenen Buch erzählte. Zumindest gab er sich große Mühe, so zu wirken. Und dann kam Magda ein Gedanke. Sie kam sich richtig verrucht dabei vor. Wann hatte sie so etwas zum letzten Mal gemacht? Seit den siebziger Jahren nicht mehr, ganz sicher. Aber wenn einer Kurt auf Distanz halten konnte, dann Toni. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr. Toni bekam ganz große Augen, nestelte nervös an seiner Krawatte herum. Und dann tat er, was Männer seines Anspruchs immer tun: sie schlucken ihre Angst hinunter und nicken. So eine Gelegenheit!

  Als sie ins Wohnzimmer trat, saß Kurt da wie immer. Das Bier war noch halb voll. „Komm, mach es dir bequem,“ sagte Magda und deutete auf die Couch. Toni zupfte sein Hemd zurecht und nahm Platz. Magda neben ihm, Knie an Knie, mit bestem Blick auf Kurt. Jener blickte mit zitternder Rechter um sich. Hol dir deinen Aschenbecher selber! „Hast du was gesagt?“ fragte Toni irritiert.

  Magda winkte ab, rieb ihr Bein an jenem des elegant gekleideten Mannes. „Zum Sprechen haben wir später noch Zeit,“ schnurrte sie bedeutungsvoll und brachte ihr Dekolleté so in Pose, dass sowohl Toni als auch Kurt einen guten Blick darauf hatten. Toni tat, was er tun musste.

  Körper reibt sich an Körper, Atemzug überholt Atemzug, und dabei immer die Hoffnung, dass alles gut gehen wird, kein blöder Satz, keine Versagensangst, kein Krampf und kein Herzinfarkt. Und dann – der Blick auf Kurt, der immer noch dasitzt und auf den Aschenbecher wartet. Doch halt – er wirkt schon blasser. Doppelte Inbrunst, „Toni!“ schreit sie hinaus – und dann ein Wonnegefühl der Freiheit, und es ist ihr, als wäre Kurt hineingezogen worden in das Leder des Sessels, verschwunden für immer.

 

Magda wusste nicht mehr, wie sie in ihr Bett gekommen war. Aber als sie am nächsten Morgen aufstand und ins Wohnzimmer ging, zuckte sie zusammen. Da saß ein Mann in Kurts Sessel, und zunächst dachte sie, es wäre Kurt selbst. Doch dann sah sie, dass es Toni war, Toni, der hilflos seine Linke hob. „Möchtest du ein Bier?“ fragte Magda entgeistert. „Gerne,“ sagt Toni, aber so leise, als wüsste er, dass in Zukunft die Geste allein reichen würde.

  „Ich hab kein Bier,“ sagt Magda, und ihre Stimme ist sehr laut. „Und ich möchte, dass du jetzt gehst.“

  Toni blickt sie mit leerem Blick an, seufzt. „Ist ja gut, bin schon weg.“ 

 

  Als die Türe hinter Toni ins Schloss fällt, atmet Magda tief durch. Blickt hinaus auf die nahen Hügel. Vögel zwitschern. Sie holt sich das letzte Bier aus dem Kühlschrank und lässt sich in den abgewetzten Ledersessel fallen. Morgen bring ich ihn weg, den Sessel, denkt sie, und nimmt einen großen kühlen Schluck.