Von Helmut Blepp

Wir lebten damals in einem kleinen Ort im Taunus zur Miete in der Mansardenwohnung eines Drei-Familien-Hauses. Ich war seit kurzem als Busfahrer angestellt, meine Frau putzte in einer Arztpraxis. Meine restliche Familie lebte verstreut in Deutschland, seit wir als Russlanddeutsche aus Kasachstan übergesiedelt waren. Regelmäßigen Kontakt hatte ich damals nur zu meinem älteren Bruder Waldemar, den es mit meinen greisen Eltern nach München verschlagen hatte.

Zu jenem Zeitpunkt war mein Vater schwer erkrankt. Die Ärzte gaben wenig Hoffnung auf Genesung, und wir rechneten jeden Tag mit dem Schlimmsten. Am Abend hatte ich noch lange mit Waldemar telefoniert. Ich wollte nach München kommen, doch mein Bruder meinte, wir sollten die Entwicklung abwarten, zumal es nicht gut wäre, wenn ich schon jetzt bei meiner neuen Arbeitsstelle um freie Tage bitten würde. Waldemar versprach, in jedem Fall sofort anzurufen, wenn sich die Situation ändere.

Ich ging zeitig zu Bett, da ich früh am Morgen einen Schulbus zu fahren hatte, und meine Frau schloss sich an. Aber die Sorge um meinen Vater trieb mich um, so dass ich lange wach lag. Irgendwann muss ich dann doch eingeschlafen sein, denn ich erwachte von einem fürchterlichen Getöse auf dem Dach. Auch meinte Frau neben mir war sofort hellwach. Wir schauten uns an, wie gelähmt vor Schreck. Der Radau war unerträglich. Das ganze Haus erbebte, und wir erwarteten, dass jeden Moment ein abgestürztes Flugzeug oder ein Hubschrauber durch die Decke brechen würde. Stattdessen trat mit einem Mal eine völlige Stille ein. Lange harrten wir aus, lauschten immer wieder auf irgendwelche Geräusche, doch es blieb ruhig.

Irgendwann hörten wir dann Rufe auf der Straße unten. Wir nahmen an, das seien Nachbarn, die, von dem Lärm alarmiert, aus ihren Häusern gekommen waren, um nachzuschauen, was passiert sei. Als wir uns aber endlich aus unserer Starre gelöst hatten und ans Fenster traten, war da niemand. Nach wie vor aber hörten wir eine Stimme, und jetzt verstanden wir, dass es übles Geschimpfe war. „Ihr Schweine“, rief diese Stimme. „Ihr verdammten Schweine! Lasst mich rein! Lasst mich endlich rein!“ Immer wieder.

Wir dachten an einen betrunkenen Nachtschwärmer, der vielleicht seinen Hausschlüssel verloren hatte und zogen uns vom Fenster zurück. Der Schreck über den Krach, der uns geweckt hatte, steckte uns noch immer in den Gliedern.

Da polterte es plötzlich an unserer Wohnungstür. Jemand hämmerte dagegen und schrie: „Lasst mich rein, ihr Schweine! Verfluchtes Pack, lasst mich rein!“ Die Stimme überschlug sich fast und klang so hasserfüllt, dass meine Frau sich ängstlich an mich klammerte und mich beschwor, auf keinen Fall zu öffnen. Zitternd hielt ich sie im Arm, während ich das Telefon ergriff und den Notruf wählte. Die Leitung war tot. Ich versuchte es wieder und wieder, während die Tür von weiteren Schlägen und Tritten erschüttert wurde, begleitet von immer wüsteren Beschimpfungen und Drohungen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der wir darum beteten, dass endlich die Polizei anrücken würde oder Nachbarn uns zu Hilfe kämen, endete der Angriff auf unsere Tür so unvermittelt, wie er begonnen hatte. Der Verrückte da draußen musste wohl aufgegeben haben. 

In dieser Nacht machten wir kein Auge mehr zu. Als es draußen hell wurde, trat ich vorsichtig in den Flur. Die Tür war unversehrt, und auch sonst fanden sich keinerlei Spuren von dem nächtlichen Zwischenfall. Ich fühlte mich wie gerädert, absolvierte aber trotz der Bedenken meiner Frau den Fahrdienst und war froh, nach der Schulbuslinie eine längere Pause zu haben. Ich nutzte sie, um unsere Hausärztin aufzusuchen, da ich meine innere Unruhe kaum noch zu kontrollieren wusste und Angst davor hatte, mich nachmittags wieder ans Steuer zu setzen. Sie bemerkte sofort, dass mich etwas stark beschäftigte und fragte, ob Zuhause alles in Ordnung sei. Ich war so angespannt, dass ich nicht an mich halten konnte. Unter Tränen erzählte ich ihr von den Ereignissen der Nacht. 

Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich mir gegenüber. Bedächtig legte sie ihre Hände auf meine Knie und schaute mir mitfühlend in die Augen. 

„Sie haben alles richtig gemacht“, sagte sie zu meinem Erstaunen und nickte bestätigend dabei. „Man darf nicht auf sie hören, wenn sie rufen.“ 

Damit verabschiedete sie mich. Ratlos, mit einer Krankmeldung und einem Rezept für ein leichtes Beruhigungsmittel in der Tasche, ging ich nach Hause. Im Hausflur traf ich Frau Lenz, unsere greise Nachbarin vom ersten Stock. Ich fragte sie, ob sie etwas über die Vorfälle in der Nacht wisse. 

„Nein“, antwortete sie. „Ich habe nichts gehört. Und mein Mann gewiss auch nicht. Er hat einen leichten Schlaf, und wenn es heute Nacht Randale gegeben hätte, hätte er es beim Frühstück sicher erwähnt. Aber was soll denn überhaupt gewesen sein?“ 

Ich schilderte ihr alles, den Krach auf dem Dach, das unflätige Geschrei, das Toben vor unserer Wohnungstür. Fassungslos schüttelte sie den Kopf. 

„Dass es so etwas noch gibt“, sagte sie und nahm tröstend meine Hand. „Aber Sie haben alles richtig gemacht. Man darf nicht aufmachen, wenn sie rufen. Man darf sie auf keinen Fall hereinlassen.“ 

Damit wandte sie sich ab und ging zu ihrem Briefkasten. Ich stieg die Treppe hoch zu unserer Wohnung. Kaum hatte ich aufgeschlossen, hörte ich auch schon das Telefon läuten. Es war Waldemar. Er hatte den ganzen Morgen versucht, mich zu erreichen. Der Vater war in der Nacht gestorben. Er hatte gelitten bis zum Schluss.