Von Karl Kieser

Jette ist die Einzige in der Familie, die es zu etwas gebracht hat. Und zwar nur dadurch, dass sie den richtigen Mann geheiratet hat. Der hat selbst zwar auch nicht viel geleistet, dafür hatten aber seine Vorfahren einen beachtlichen Puffer angehäuft, der den beiden nach und nach per Erbschaft zufiel.

Jettes Mann hat dankenswerter Weise auch das Zeitliche gesegnet, sobald der Erbsachen-Segen vollständig auf sie niedergegangen war. Das Paar ist kinderlos geblieben und Jette lebt schon seit Jahren allein in ihrer Villa. Irgendwie logisch, dass sie oft Besuch aus der Familie begrüßen kann.
Alle Familienfeiern werden grundsätzlich in ihrem komfortablen Haus abgehalten, weitgehend auch von ihr finanziert. Ja, die ganze Verwandtschaft hängt mehr oder weniger an ihrem Tropf. Daher findet sie es nur recht und billig, dass die jüngere Generation sich bei ihr etwas nützlich macht.
Einmal in der Woche, wenn Jette sich einen Wellnesstag gönnt, müssen die Nichten im Wechsel zum Hausputz antreten.

Ilse und Gerda waren an der Reihe. Sie waren sehr überrascht, als sie ihre Tante in einem Sessel im Salon vorfanden, denn normalerweise war sie um diese Zeit immer aus dem Haus. Dass Jette tot war, fiel ihnen erst auf den zweiten Blick auf.
Der anfängliche Schock, Ilse konnte einen kleinen Kreischer nicht unterdrücken, wurde bei beiden sogleich versüßt durch die folgenden Überlegungen: Von dem zu erwartenden Erbe würde sicher auch etwas bei ihnen ankommen, denn es gab nur noch diesen Zweig der Familie, und vor allem, die Fron des Villenputzens würde ein Ende haben.

Unverzüglich wurde der Familienrat einberufen und man entschied, Tante Jette auf ihre eigenen Kosten zu beerdigen. Es war ja genug da, und den Leichenschmaus als letzte Tradition in der Villa abzuhalten, bevor sie verkauft würde.
Einige wunderten sich darüber, dass Jette irgendwie fremd aussah. Aber die Leiche war ja auch nicht mehr frisch und man weiß doch, dass der Tod alles verändert.

Der Hausarzt stellte einen Herzinfarkt fest, keine große Überraschung bei Jettes hohem Blutdruck, und alles ging seinen behördlichen Gang.

Tage später sitzt eine fröhliche Runde in der Villa beisammen. Tante Jette hat man angemessen unter die Erde gebracht und nun kann man darangehen, das Erbe zu sichten und aufzuteilen.
Da die Verstorbene sich immer geweigert hatte, ein Testament aufzusetzen, sind die Regeln vorgegeben. Es herrscht eine gelöste Stimmung, denn inzwischen ist klar geworden, dass neben ein paar gut gefüllten Konten auch ein dickes Aktienpaket auf neue Besitzer wartet.

Die Stimmung ist wie gesagt gelöst, bis ein sehr zorniges: „Was ist denn hier los?“ alle aufblicken lässt.
Niemand hat bemerkt, dass jemand die Haustür aufgeschlossen hat und nun eine total entrüstete Tante Jette im Türrahmen zum Salon steht.
Gerda erstarrt in ihrer Bewegung und kriegt den Mund nicht mehr zu. Ilse fällt tonlos auf der Stelle in Ohnmacht und Onkel Karl versucht etwas unbeholfen zu verhindern, dass sie auf dem Boden landet.
Der Rest der Gesellschaft starrt sprachlos auf die Erscheinung im Türrahmen.

„Was ist, hat’s euch die Sprache verschlagen? Gerade eben war es doch noch erstaunlich lustig hier. Was macht ihr in meinem Haus? Heraus mit der Sprache!“

Onkel Karl hat Ilse fest im Griff. Wenn sie jetzt noch zu Boden will, muss er mit. Trotzdem ist er der Einzige, dem eine Erwiderung einfällt: „Wieso bist du nicht tot? Wir haben dich doch gerade beerdigt.“

„Tot? Das hättest du wohl gerne.“ Es sieht ganz so aus, als ob die Erbtante aus ihrer Empörung übergangslos in helle Wut wechseln möchte.
So mancher aus der Runde sieht den erblichen Geldsegen davon schwimmen, obwohl sich niemand erklären kann, wie das auf einmal möglich sein kann.

Jette jedoch ist plötzlich ruhiger geworden. Ihr ist inzwischen klar geworden, was passiert sein muss.
Sie hat die volle Aufmerksamkeit der Runde, als sie nun ihre Verwandtschaft aufklärt, die so brutal  aus einer rosigen Zukunft in die bittere Gegenwart zurückgestoßen wurde.

„Oh Gott, meine Schwester ist tot.
Warum hat es niemand für nötig gehalten, mir zu sagen, dass ich eine Zwillingsschwester habe? Was ist das für eine Familie, in der ein Zwilling von fremden Leuten adoptiert werden kann? Ich kann es immer noch nicht glauben. Das sind ja asoziale Verhältnisse.
Egal! Meine Schwester hat auch erst kürzlich davon erfahren und nach mir gesucht.
Jetzt könnt ihr euch ja vorstellen, wie ich mich gefühlt habe, als mein Ebenbild vor der Tür stand und wie sauer ich war, dass meine Familie mir meine Zwillingshälfte verschwiegen hat.
Das muss doch jemand gewusst haben. Habt ihr dazu etwas zu sagen?“

Ilse ist wieder in die Gegenwart zurückgekehrt und Onkel Karl kann sich logischen Argumenten widmen. Er ist nicht der Einzige, der nach den wenigen Sätzen Jettes die groteske Situation versteht.
„Mein Gott, Jette, mach nicht so ein Fass auf. Wir hatten doch auch keine Ahnung davon. Das hättest du allenfalls deine Eltern fragen können, als sie noch lebten.
Gerda und Ilse haben hier eine Tote gefunden, die genauso aussah wie du. Was hätten wir denn anderes denken können, als dass du überraschend gestorben bist?
Du hattest jedenfalls eine schöne Beerdigung.“
Und noch bevor Jette etwas erwidern konnte, fügt er hinzu: „Wieso tauchst du überhaupt jetzt erst wieder auf? Wo hast du gesteckt in den letzten Tagen?“
Und Karl, der heimliche Clanführer schiebt noch hinterher: „Hast du womöglich etwas zu tun mit dem Tod deiner Zwillingsschwester? Ist das überhaupt sicher, dass sie deine Schwester war?“

Rums! Mit einem Schlag ist Jette in der Defensive. Von allen Seiten kommen nun die Zurufe:
„Genau!“

„Was hat das zu bedeuten?“

„Das musst du uns mal erklären.“

Okay, Jette kann es erklären.
Die betroffen lauschende Verwandtschaft erfährt, dass die verwandtschaftlichen Verhältnisse belegt sind. Die Zwillingsschwester Hilka hatte es aber nicht so gut getroffen. Neben finanziellen Problemen hatte sie auch mit gesundheitlichen Einschränkungen zu kämpfen.
Beide Schwestern wurden sich einig, ihre restliche Zeit miteinander zu verbringen.
Ausgerechnet Hilka hatte die Idee, die vielen verpassten Zwillingsscherze nachholen zu wollen. Auch Jette fand die Idee lustig und da sie ohnehin über ihr Verhältnis zu dem frisch aufgetauchten Zwilling nachdenken wollte, war sie spontan zu einem Kurzurlaub aufgebrochen. Wie hätte sie auch ahnen können, dass Hilka nur einen Tag nach ihrer Abreise sterben würde?

Jettes Wiederauferstehung würde jedenfalls vermutlich einen behördlichen Sturm im Wasserglas auslösen.

Version 2