Von Regina W. Egger

Da war es wieder, das Geräusch!

Sie schrak auf.

Im Fenster stand der bleiche Mond und warf sein fahles Licht auf sie.

Sie tastete zur Nachttischlampe, knipste sie an und lauschte. Nichts. Jetzt war kein Laut zu vernehmen. Nur das leise Schnurren des Katers durchbrach die Stille. Er hatte sich auf jener Seite des Bettes zusammengerollt, wo früher Imre geschlafen hatte. Er wirkte zufrieden und seltsam in sich versunken, wie er das Kissen mit seinen Vorderpfoten knetete. Kandur. Kater auf Ungarisch, hatte Imre den Kleinen genannt. Völlig durchnässt saß er in seinem Handteller und ließ sich von Imres rauen Fingern umschließen, als er ihn heimbrachte. Aus einem Abflussrohr hatte Imre den Kater herausgezogen, auf jener Baustelle, auf der er selbst später mit eingedrücktem Brustkorb gefunden wurde.

Da! Da war es wieder! Ein leises Scharren in der Wand.

Sie setzte sich auf und lauschte. Nichts. Bildete sie sich das nur ein? Der Kater schien nichts gehört zu haben, denn er schnurrte und hatte nicht einmal den Kopf gehoben. Alles nur Einbildung, denn wenn da etwas wäre, hätte doch auch das Tier auf das Geräusch reagiert.

Sie legte sich wieder hin, knipste das Licht aus und drehte sich zur Seite. Aber sie war jetzt hellwach und an Schlaf war nicht mehr zu denken. Es war sicher erst zwei Uhr früh und es blieben nur noch drei Stunden, um sich auszuruhen und Kraft für den nächsten Tag zu sammeln. Kraft und Konzentration, die würde sie brauchen. Sie musste alle ihre Talente einsetzen und ihr Bestes geben. Es stand viel auf dem Spiel. Es war ihr erstes Vorstellungsgespräch seit langem. Und sie musste den Frühzug erwischen.

Also, schlafen, möglichst schnell wieder zur Ruhe kommen. Sie drehte sich auf den Rücken, legte die Arme seitlich auf die Matratze und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Atem.

Ein. Aus. Ein. Aus.

Da! Schon wieder! Ein leises Klopfen diesmal. Ja, da war es, es kam von der Wand her. Jetzt war sie sicher. Warum aber nahm der Kater keine Notiz davon? So als setzte er einen Kontrapunkt gegen ihre Unruhe, begann er nun noch lauter zu schnurren, füllte das Schlafzimmer mit einem besänftigenden Klangteppich, beinah beschwichtigend legte er auch noch seine Pfote auf ihre Schulter.

Vielleicht sollte sie es nicht beachten, es könnte eine Maus sein, die sich irgendwo in der Mauer eine Behausung gesucht hatte. Das Haus war alt und bot allerlei Tieren Unterschlupf, einmal hatte sie sogar einen Vogel im Lichtschacht gefunden, er war nur noch ein Skelett.

Sie war früher nicht so schreckhaft gewesen, aber nach dem Ereignis war alles anders. Die Nachricht hatte sie so unvermittelt getroffen, Imres Arbeitskollege, der sie angerufen hatte, um ihr von dem Unfall zu berichten. Seither stellten sich ihr jedes Mal die Nackenhaare auf, wenn sie das Handy summen hörte. Einen Monat war das nun her, und ihr war immer noch, als könnte sie Imre riechen. Dieser Hauch von Röstzwiebeln und Tabak, ein wenig von Schweiß. Auch wenn Imre lange und ausgiebig geduscht hatte, war noch etwas davon übrig auf seiner Haut, wie Rauch, der manchmal an Herbsttagen unsichtbar in der Luft hängt. Rauch. Feuer. Warum dachte sie jetzt an Feuer? An lodernde Flammen, die in trockenen Sommern den Wald in eine Brandhölle verwandeln? War es die Erinnerung an Imres Kremierung? Aber da hatte man doch gar kein Feuer gesehen, das war nur in ihrer Vorstellung und hatte sich nun in ihre Gedanken geschlichen, so als habe sie es real vor Augen gehabt. Wie man sich doch immer wieder täuscht, glaubt etwas zu erinnern und dann ist es doch nur Konstruktion, zusammengefügt aus Wortfetzen und Bildern im Kopf.

Sie lauschte, sie spitzte die Ohren, sie strengte sich an, aber jetzt war nichts mehr zu hören. Es musste ein Tier gewesen sein, vielleicht diesmal eine Fledermaus, die sich im Kamin verirrt hatte.

Sie drehte sich auf die Seite und schlug die Decke über ihre Schultern, versuchte dabei die Ohren zu verhüllen. Vielleicht würde sie dann, wenn das Geräusch wiederkam, es gar nicht hören. Ja, so würde es gehen, so würde sie einschlafen und endlich die ersehnte Nachtruhe finden.

Aber durch die Decke drang jetzt laut und deutlich wieder ein Scharren, gefolgt von einem leisen Klopfen. Was zum Teufel war das?

Ach, wäre Imre bloß noch hier! Sie könnte sich zu ihm drehen und er würde sie umfassen, seine großen Arbeiterhände fest auf ihre Gesäßbacken legen und etwas Beruhigendes murmeln, halb im Schlaf, halb im Wachen, und schon könnte sie wieder einnicken. Aber Imre würde nie mehr zu ihr kommen. Er lag jetzt auf dem Friedhof in einer kleinen Nische der Urnenwand. Seine Tochter, die aus dem Nichts nach seinem Tod aufgetaucht war, hatte es so verfügt. Sie hatte auch seine Habseligkeiten mitgenommen, aus jenem Container auf der Baustelle, in dem er gewohnt hatte. In Ungarn hatte Imre ein kleines Haus gehabt, irgendwo im Nirgendwo an der Theiß. Ein paar Mal hatte er sie dorthin mitgenommen zum Fischen. Das Dickicht rund ums Haus war beinahe undurchdringlich. Imre fing Fische und briet sie abends über dem Feuer und dazu aßen sie dicke blassgrüne Salzgurken aus einem Einweckglas, das er auf der Fensterbank stehen hatte. Sie schmeckten nach Dill und mitunter klebte ein Weinblatt dran, das Imre mit in die Salzlösung gelegt hatte. „Für den Geschmack!“, erklärte er lächelnd und gab dabei den Goldzahn frei, der ihm jenen, den er einmal bei einer Schlägerei verloren hatte, ersetzte.

Ob die Tochter nun in diesem Haus wohnte? Oder würde sie es verkaufen?

Imre hatte ihr nie von seiner Tochter erzählt und auch nicht von seiner Frau. Er hatte immer sie als seine kleine Frau bezeichnet. Und er hatte ihr versprochen, stets auf sie achtzugeben. Was für ein leeres Versprechen, wenn einer tot ist, wie ein Stein, der irgendwo ins Wasser fällt und versinkt. Nur die Kreise, die sich auf der Wasseroberfläche zeigen, erinnern noch an ihn. „Du wirst sehen, ich werde dich beschützen, ich melde mich von drüben“, hatte Imre gesagt. Es war an jenem Ort an der Theiß, als sie abends auf der Veranda lagen und die Sterne durch die Baumkronen blitzen sahen. Sie hatte gelacht und ihn geneckt, weil er an so etwas glaubte, er der große Kerl mit einem Oberkörper so breit wie der eines Schwimmers, der nichts als Körperkraft und Arbeit kannte. Wie konnte er an so einen Schwachsinn glauben?

Jetzt aber wünschte sie, er hätte recht gehabt und könnte sich tatsächlich noch einmal mit ihr verbinden. Und sei es nur so lange, bis sie eingeschlafen war.

Manchmal hatte er ihr Geschichten erzählt, die wie Märchen klangen, aus einer längst vergangenen Zeit, als er seine Kindheit bei den Großeltern auf dem Land verbracht hatte. Wahrscheinlich kam daher dieser Aberglaube, der ihn begleitete, denn die Erzählungen seiner Großmutter waren voll von Geistern gewesen. Jene im Brunnen durfte man nicht reizen, weil sonst die Quelle versiegte, und jene im Wald lauerten nachts Wanderern auf.

Da! Da war es wieder, ganz leise, ein Kratzen, ein Scharren.

Nein, so konnte das nicht weitergehen, sie würde aufstehen, Tee kochen und ein leichtes Schlafmittel nehmen. Sie hatte nicht mehr lange Zeit, sich auszuruhen.

Diese Nachtgespenster, sie würde sie verbannen! Sie sprang also aus dem Bett, drehte das große Deckenlicht an und schlurfte in die Küche. Bald schon summte der Teekessel und sie schüttete Hopfen, Lavendel und Melisse in das heiße Wasser, süßte alles mit einem Löffel Honig und suchte im Medikamentenschrank nach einem Schlafmittel. Dann setzte sie sich an den Küchentisch, schluckte die Tablette mit einem Glas Wasser und schlürfte das heiße Gebräu. Der Kater war nun auch aufgestanden und kratzte an der Eingangstür. Sie entließ ihn in die schwarze Nacht. Langsam legte sich nun Müdigkeit auf ihre Lider, sie drehte die Lichter ab und legte sich neuerlich ins Bett. Sie lauschte. Nichts. Sicherlich alles nur Einbildung! Und schlief ein.

Die Sonne schien schon hell durchs Fenster, als sie endlich erwachte. Nein! Auch das noch, sie hatte verschlafen! Es war bereits halb acht! Sie hätte das Schlafmittel nicht nehmen sollen! Jetzt war der Frühzug weg und sie würde nicht mehr rechtzeitig zum Vorstellungsgespräch kommen. Anrufen, sie musste anrufen und sich entschuldigen. Sie würde einen späteren Zug nehmen, vielleicht konnte sie es noch einmal hinbiegen.

Die Frau am anderen Ende der Leitung klang überaus freundlich, als sie ihr Zuspätkommen erklärte, dann sagte sie: „Ach, das macht ja gar nichts. Sehen Sie es doch als eine Fügung des Himmels an!“

„Wieso das?“

„Na haben Sie denn keine Nachrichten gehört? Der Frühzug… das Unglück. Angeblich war die Signalanlage defekt…“

Und noch während sie sich von der netten Stimme am Telefon verabschiedete, drehte sie das Fernsehgerät an und sah die Bilder der entgleisten Waggons über den Bildschirm flimmern.

 

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